Hugo Berger

Steinreich


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egal welche Jahreszeit, egal welches Wetter und mir strengstens verboten hat vor sechs Uhr abends wieder zuhause zu sein. Das ist erst anders geworden nach meinem zweiten negativen Highlight, als sie diesen Kotzbrocken von Stiefvater, den Willi, geheiratet hat. Er wird wohl einer dieser Nachmittags-Männer-Besucher gewesen sein. Ich wusste nie, warum, aber er hat mich auf dem Kicker gehabt, vom ersten Tag an. Für ihn war ich nur ein lästiger Bengel.

      Mann, so eine Riesenscheiße! Verdammt, was wäre das für ein Ding gewesen, ein Lottogewinn, fettes Geld, endlich in die Sonne eines Lebens zu blicken, das man als lebenswert bezeichnen konnte. Ich habe es mir immer in tollen Bildern ausgemalt, echt oberaffengeil. Jokü-Riepa-Pokau-Mefli-Neuwo. (Job kündigen, Riesenparty, Porsche kaufen, Mexiko fliegen und neue Wohnung).

      Die Hitliste war schon lang in meinem Kopf verewigt als ob ich sie als kleiner Junge in einen Baum oder in eine Parkbank eingeritzt hätte, so wie es die Liebespaare mit ihren Vornamen und einem Herzen tun. Die Wunschliste war gerade in diesem Augenblick sie so penetrant vor meinen Augen gewesen wie der TV-Werbeblock fünf Minuten vor Ende des Blockbusters.

      Werbung eins, ich kündige den unterbezahlten Job, gefolgt von Werbung zwei, in der ich eine Riesenparty mit allem Drum und Dran schmeiße. In der dritten Produkt-Platzierung erscheint ein nagelneuer roter Porsche, der ganz allein mir gehört, anschließend fliege ich nach Mexiko zum Traumurlauben und im letzten Werbejingle suche ich mir eine megaschicke neue Wohnung in einer gepflegten Gegend, die sich sehen lassen kann. Vermutlich war das nicht großartig abweichend von der Wunschliste anderer Glücksschwein-Kollegen, die ihren verfickten Lottoschein tatsächlich in und zur der Hand haben.

      Das wäre mein Traum gewesen. Verdammt nochmal und ich bin so scheiß nahe dran gewesen. Ich mochte es nicht glauben, ich konnte es nicht glauben. Diese verflixte Lottoquittung konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.

      In meiner ausweglosen Situation musste ich an Fix denken, er hätte den Schein mit Sicherheit gefunden. Er hat immer alles gefunden, den versteckten Schlüssel jeder Gartenlaube, mein geheimes Kondomversteck, den Weg zur abgelegensten Spelunke, vielleicht sogar diese Nadel in diesem Heuhaufen, einfach alles. Er hatte immer die Nase dafür, den richtigen Riecher. Fix, seinem Ausweis nach eigentlich Tom Freund, schlaksige einsneunzig und dunkelhaarig. Er war ein echtes Phänomen auf seine Art, und trotzdem hat er -bis auf seine zugegeben geniale Autoschrauberei- nichts daraus gemacht. Aber wenn ich ihn gefragt hätte, an welcher Stelle ich suchen sollte, dann hätte er mich wahrscheinlich einfach angesehen, voller Zuversicht, so wie er es immer tat. Er würde nicht lange gegrübelt, in seinen unzähligen Hosen- und Jackentaschen herumgekramt und ermahnend zu mir gesagt haben:

      „Meine Fresse, jetzt mach dir bloß nicht ins Hemd. Wir finden dieses verfickte Papierschnipsel.“ Bestimmt hätte er dazu einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, als ob er nachdenken würde und kurz darauf einen seiner Schraubenschlüssel aus der Hosentasche gefingert haben. Mit ihm hätte er in der Manier eines Profi-Zauberers in der Luft herumgefuchtelt wie mit einem Zauberstab, ihn auf mich gerichtet und dann hätte er gesagt:

      „Du weißt es. Mach deine Augen zu, denk an einen geilen dreihundert-PS-Schlitten, stell dir den Kofferraum vor, das Handschuhfach, die Seitenablage, das Konsolenfach. Denk an nichts anderes.“ Nach einer gut inszenierten Gedankenpause wäre an dieser Stelle immer sein „ich zähle bis drei!“ gekommen, gefolgt von einem coolen Grinsen und seinem Standardspruch: „Des kleinen Mannes Sonnenschein ist ficken und besoffen sein … oder dieser Lottoschein.“

      Und plötzlich hatte ich den einzigen Platz im Kopf, an dem ich noch nicht nachgesehen hatte. Wie ein Geistesblitz, zu simpel, um es auf Anhieb gewusst zu haben. Meine unspektakuläre Hosentasche, in der sich so manches sammelte, was gerade noch Platz fand.

      Fix war ein Unikum an Ideen und Einfällen. In unserer Tom-und-Huck-Phase sind wir fast täglich ausgerückt, Schatzsuche statt Schule. Fix war von dem zwanghaften Drang besessen, etwas auszugraben zu wollen. Von seinen supergeheimen auf Pergament gekritzelten Schatzkarten behauptete er felsbrockenfest, dass er sie in einem uralten Buch in der öffentlichen Bibliothek gefunden hatte. Kann man glauben oder nicht. Egal, wir waren Jungs und wir haben wirklich alles Mögliche ausgebuddelt, einen Klodeckel, ein Gebiss, eine Blechdose mit unbekannten verrosteten Münzen, ein vergrabenes Mofa und ein paar Knochen.

      Natürlich liegt jetzt -mehr als 20 Jahre später- der Verdacht nahe, dass er die Schatzkarten selbst gekritzelt und auch den ganzen Kram selbst verscharrt hat, um ihn dann später unter großem Trara mit mir wieder ans Tageslicht zu befördern und mit der Trophäe seine Schatzsucher-Fähigkeiten unter Beweis stellen wollte. Aber er war einfach der Typ für die Show, das hat er nie abgelegt, dieser irre Hundling. Im Gegenteil, er hat sein schauspielerisches Talent mit den Jahren weiter perfektioniert und daraus etwas gemacht, das er in allen möglichen Lebenslagen angewendet hat. Und er tut es immer noch.

      Hokuspokus, ein Griff in die Hosentasche. Danke Fix, echt, tausend Dank. Telepathie? Was weiß ich, auf jeden Fall hatte ich dieses verknitterte Stück Papier in meiner Hand, plötzlich so selbstverständlich, so banal und so logisch wie ich den Spielschein für jeweils vier Wochen regelmäßig bei der Lottotussi abgegeben hatte.

      Ich hätte lauthals schreien können, vor Erleichterung, vor Glück und davor, dass ich endlich den unumstößlichen Beweis für mein neues Leben in der Hand hatte. Ich tat es aber nicht. Verdammt, dieses ständiges Hin-und-Her-Wechselbad zwischen Glück und Nicht-Glück wie zwischen Sauna-Aufguss und Tiefkühlfach. Wer kann so ein nervenaufreibendes Auf und Ab verkraften? Ich gehörte nicht zu diesen tuffen Typen, die in aller Lässigkeit der Menschheit mal kurz die sechs Richtigen checken, sich auf einem gelben Post-it dann schnell ein paar Notizen über ihre to do`s machen, das gelbe Ding vorne auf die Kühlschranktüre kleben, dazwischen kurz die Welt retten und sich dann vom Kühlschrank ein eiskaltes Bier holen, so, als ob ihr Fußballverein soeben mal ein Auswärtsspiel gewonnen hat. Nein, diese Art von Coolness gehörte nicht zu meinen Eigenschaften. Etwas anderes begann mich dafür kurz darauf aufs Neue zu quälen, nachdem ich die Schockstarre überwunden hatte. Es waren diese blöden überflüssigen Drecks-Zweifel, dich mich wieder einholten und mich aufs Neue verunsicherten, ob ich tatsächlich die richtigen Zahlen im Bildschirmtext abgelesen hatte, ob das alles tatsächlich gerade in Wirklichkeit passiert war. Und wieder raste mein Puls wie eine Rakete nach oben, gefolgt von einem massiven Schweißausbruch mit dicken regentropfengroßen Schweißperlen auf der Stirn.

      Es kann nur an meiner lebenslangen Minderwertigkeits-Krise gelegen haben, dass ich so verdammte Schwierigkeiten gehabt hatte, mir selber eingestehen zu können, dass dieses scheiß kleine ramponierte Stückchen Papier in meiner Hosentasche ein völlig neues, anderes Leben bedeutete. Es brauchte Zeit, bis es mir endlich gelang, diesen inneren Widerstand aufzugeben und aufhörte, mich gegen das Glück zu wehren. Der Moment war gekommen, mein komplettes inneres Verlierer-Feeling mit all seinen beschissenen Erlebnissen in eine Kiste zu verpacken und in dem tiefsten Loch der Erde zu versenken.

      Stunden oder nur Minuten? Das Zeitgefühl war zwischen rastlosem Gedankenabfall, Angstattacken und dem geleerten Alkoholbestand aus meinem Kühlschrank längst abhanden gekommen, dafür war vorsichtige Freude den paranoiden Nicht-Gewinn-Gedanken gewichen. Ich vermute -hätte ich mich selbst sehen können-, dass ich mit total verklärten Blick auf meiner so was von alten Couch gehockt bin und die Leergut-Batterie auf dem Tisch vor mir angestarrt habe.

      Doch, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich war damit beschäftigt gewesen, mir vorzustellen, welches Sümmchen ich zu erwarten hatte. Die Rechenmaschine in meinem Kopf bemühte sich, eine Summe auszuspucken, die mir auf der Zunge lag. War es zu blauäugig, sich eine ganze Million auszumalen? Vielleicht ein bisschen mutig, aber allein das Wort -Million- war magisch und unvorstellbar zugleich. Ich musste mir das erst einmal bildlich vorstellen, eine ganze Million, ein Berg voller Geld, eine Riesenzahl mit verflucht vielen Nullen, echt krass. Ja, ich erinnere mich wieder ziemlich genau. Ich malte die Summe auf den weißen Rand einer alten Zeitschrift und stellte beim ersten Versuch fest, dass fünf Nullen zu wenig sind und im zweiten, dass eine Million genau so viele Nullen hat wie die Anzahl der richtigen Lottokreuzchen, nämlich sechs. Danach -glaube ich- hatte ich ein Blackout, oder vielleicht war ich auch nur mehr oder weniger alkoholbetäubt eingedöst.