Martin Dolfen Thomas Strehl

... und am Ende wird alles gut


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war darauf zu lesen. Mein Hausarzt, mein Vertrauter und fast so etwas wie ein Freund. Jedenfalls sah ich ihn öfter, als jeden anderen meiner Bekannten.

      Ich öffnete die Tür, ging den Hausflur entlang und schnurstracks auf den Eingang der Praxis zu.

      Am Empfang saß Melanie, sie konnte mich nicht leiden, wahrscheinlich hielt sie mich für einen Simulanten. Und seitdem sie mich irgendwie herablassend behandelte, beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit.

      »Ach, der Herr Winkel beehrt uns mal wieder«, empfing sie mich süffisant. »Wo drückt denn diesmal der Schuh?«

      »Das würde ich doch lieber mit einem Doktor besprechen«, meinte ich nur.

      Das Wartezimmer war tatsächlich leer. Ich hatte einen guten Zeitpunkt erwischt. Als wüsste das Schicksal, dass ich es heute eilig hatte.

      »Dann setzen Sie sich doch erst einmal ins Warte ...«

      Ich ließ sie nicht aussprechen. »Machen Sie sich mal keine Umstände. Ich gehe direkt durch.«

      Ich pokerte hoch. Es hätte auch noch ein Patient im Behandlungsraum sein können, doch ich riss einfach die Tür auf und trat ein.

      Markus Winzen saß auf seinem Ledersessel, die Füße auf dem Schreibtisch und schlürfte geräuschvoll Kaffee. Als er die Türe hörte, drehte sich sein Kopf schnell in meine Richtung und beinahe wäre ihm die Tasse aus der Hand gefallen.

      »Simon«, begrüßte er mich. »Haben wir heute einen Termin?« Sein Blick fiel auf den Computermonitor. »Ich dachte eigentlich, ich hätte jetzt eine halbe Stunde Pause.«

      Ich wartete nicht darauf, dass er mich dazu aufforderte, sondern setzte mich auf den Stuhl, auf der anderen Seite des Schreibtisches. Mein Arzt nahm die Füße vom Tisch, stellte die Tasse weg und sah mich mit sorgenvoller Miene an.

      »Was ist los?«, fragte er dann nur.

      »Nichts«, sagte ich und versuchte ein unbekümmertes Gesicht zu machen. »Ich wollte nur noch einmal vorbeikommen.«

      Falsche Wortwahl. Die Sorgenfalten beim Doc wurden tiefer.

      »Noch einmal vorbeikommen?«, wiederholte er misstrauisch. »Bevor...«

      War ich so leicht zu durchschauen?

      »Bevor ich in Urlaub fahre«, entgegnete ich.

      »Urlaub?«

      Wie gesagt, wir kannten uns lange, waren ungefähr im gleichen Alter und ich hatte ihm, zusätzlich zu meinen Krankheiten, oft mein Herz ausgeschüttet. Er war mein Arzt und Psychiater in einem. Oder sogar ein Freund.

      Er hatte mir oft zu Urlauben geraten, aber ich hatte immer abgeblockt, weil ich mich körperlich nicht in der Lage fühlte. Natürlich wurde er jetzt stutzig. Und mein nächster Satz, der wahre Grund, warum ich eigentlich gekommen war, machte die Lage nicht besser.

      »Hör mal«, sagte ich vorsichtig. »Ich würde gerne einen Organspenderausweis bekommen. Krieg ich den bei dir?«

      Er sagte Sekunden lang nichts, beobachtete mich nur und ich fühlte mich immer unwohler. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen.

      »Den kann man sich sogar im Internet runterladen«, meinte er dann nur.

      »Mein Drucker ist kaputt«, schaltete ich wirklich schnell.

      Der Doc öffnete eine Schublade und schob mir ein buntes Kärtchen über den Tisch. Ich wollte danach greifen, doch er zog es wieder weg.

      »Sollte ich irgendetwas wissen?«, fragte er nur.

      Ich schüttelte den Kopf. »Alles gut«, sagte ich. »Ich habe schon lange darüber nachgedacht und jetzt war ich einfach zufällig in der Gegend.«

      Er schob die Karte weiter und ich nahm sie an mich. Nicht ohne tatsächlich ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

      »Ich danke dir«, meinte ich und erhob mich. »Wir sehen uns dann in zwei Wochen, wenn ich neue Rezepte brauche.« Die Lüge kam mir nicht leicht über die Lippen.

      Er stand auf und reichte mir die Hand.

      »Wo soll es denn hingehen?«, fragte er.

      »An die Ostsee«, meinte ich. »Alte Erinnerungen aufleben lassen.«

      »Dann wünsche ich dir viel Spaß.«

      Sein Händedruck war ein bisschen zu lang, sein Blick zu besorgt.

      »Mach keinen Unsinn, Simon«, sagte er leise und ich schüttelte schnell den Kopf. »Ich doch nicht«, doch ich fürchtete, dass mich mein falsches Lächeln verriet. Also verließ ich fluchtartig die Praxis.

      Draußen atmete ich tief durch. Das war schwerer gewesen, als gedacht. Es schien tatsächlich Menschen zu geben, denen ich etwas bedeutete.

      Oder er wollte einfach als Arzt keinen Patienten verlieren. Machte sich schlecht in der Statistik.

      Noch ein tiefer Atemzug, dann hatte ich mich soweit gefangen, dass ich meine Mission wieder aufnehmen konnte. Die nächsten Etappen würden einfacher werden.

      Drei Straßenecken weiter hatte ich die Sparkasse erreicht. Ich ging ins Foyer und holte meine Karte aus der Brieftasche. Kontostand abfragen, Geld abheben, dann zum Bahnhof und eine Fahrkarte kaufen. Ab nach Hause, eine kleine Tasche packen und meine letzte Reise konnte beginnen.

      Ich tippte den Code in den Kasten und mein Guthaben leuchte mir in großen Zahlen entgegen.

      Dann wurde mir schwindelig.

      Die Zahlen verschwommen vor meinen Augen und ich registrierte erst nicht, dass Tränen daran schuld waren.

      Ich blinzelte sie weg, doch die Zahl änderte sich nicht.

      54 Euro war alles, was mir an Geld noch zur Verfügung stand.

      Und die Fahrkarte allein kostete fünfundneunzig Euro.

      Mein gut durchdachter Plan geriet zum ersten Mal ins Wanken.

      Gut, ich könnte meinen Dispo belasten, aber dann würde ich mit Schulden aus dem Leben scheiden und das kam mir seltsamerweise nicht richtig vor.

      Ich war wie vor den Kopf geschlagen, doch weil sich hinter mir schon eine Schlange bildete, blieb keine Zeit für längeres Nachdenken. Ich hob nicht alles ab, sondern nur fünfzig Euro, weil es immer gut war, etwas Reserve auf der hohen Kante zu haben, dann verließ ich das Gebäude und setzte mich wieder dem Sonnenschein aus.

      Inzwischen war es richtig heiß, vielleicht kletterte das Thermometer wieder über dreißig Grad. An der Klimaerwärmung schien doch etwas dran zu sein, doch das sollte bald nicht mehr mein Problem sein.

      Ich bemerkte, dass ich immer noch den Fünfziger in der Hand hielt und ich verspürte eine gewisse Fassungslosigkeit. Natürlich war ich nicht der große Sparfuchs und es war bereits Ende des Monats. Aber dass ich so blank war, damit hatte ich nicht gerechnet.

      Ich ging ein paar Schritte und setzte mich erstmal auf eine Bank.

      Mein toller Plan rann mir durch die Finger. Frustriert schloss ich die Augen.

      Ich wollte doch heute noch losfahren. Ein Auto hatte ich nicht, auf Grund meiner Krankheiten wollte ich nicht mehr fahren und meine finanzielle Situation tat ihr Übriges dazu. Das Krankengeld reichte gerade für die Miete, einen vollen Kühlschrank und den Luxus einer schnellen Internetverbindung nebst Sky, Netflix und den anderen üblichen Verdächtigen.

      Mit dem Zug wollte ich mein Ziel erreichen und nun das.

      Dabei hatte ich gestern, als ich den Brief schrieb, förmlich das Meer gerochen. Das Haus meiner Großeltern gesehen, in dem ich meine unbeschwerte Kindheit verbracht hatte.

      Dann sind meine Eltern, wegen eines Jobangebotes, nach Mönchengladbach gezogen und ich wurde, ob ich wollte oder nicht, mit verschleppt.

      Einige Sommerferien verblieben mir noch, bis Opa und Oma verstarben, seitdem hatte ich die Insel gemieden. Fast dreißig Jahre war ich nicht