Martin Dolfen Thomas Strehl

... und am Ende wird alles gut


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      Hier hielt mich nichts mehr. Ich konnte mein Leben gar nicht wegwerfen, weil ich schon lange keins mehr hatte.

      Aber das Bedürfnis noch einmal das Fleckchen Erde zu sehen, auf dem ich, wie es mir schien, zum letzten Mal so richtig glücklich gewesen bin, wurde riesengroß.

      Noch ein letztes Mal das Meer sehen und riechen und dann eins mit ihm werden.

      Ich öffnete die Augen. Gestern klang die Idee so einfach. Heute Abend hätte schon alles vorbei sein können und jetzt scheiterte ich am schnöden Mammon. Ich hätte kotzen können.

      Langsam erhob ich mich und schlurfte niedergeschlagen nach Hause.

      Musste der Plan halt noch ein paar Tage warten, bis neues Geld auf dem Konto war.

      Aber ich wollte nicht warten, konnte es nicht. Ich musste aufbrechen, etwas tun. Weitere Stunden allein in meiner Bude würde ich nicht aushalten.

      Zum Glück war niemand auf der Straße, als ich meine Wohnung erreichte. Von Sascha war nichts zu sehen, nur sein Fahrrad stand vor der Tür. Er hatte seine Runde, die eigentlich keine war, schon beendet.

      Ich schloss auf, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine letzte Flasche Bier.

      Langsam sah ich mich um. Würde ich mich in ein paar Tagen noch einmal aufraffen können?

      Seltsamerweise hatte ich mich, nachdem ich meinen Entschluss gefasst hatte, so gut gefühlt, wie lange nicht mehr. Jetzt verflog die Euphorie mit jeder Minute und depressive Gedanken übernahmen die Vorherrschaft.

      Also doch die Badewanne statt der Ostsee?

      Nein, ein letztes Mal wollte ich etwas richtig machen. Und mein Vorhaben erschien mir richtig. Plötzlich wusste ich wie.

      Ich holte eine Tasche aus meinem Schlafzimmerschrank, warf Ersatzklamotten hinein, ein paar Kekse, Deo und zwei Flaschen Wasser. Mein Blick fiel auf meine Medikamente. Sollte ich sie mitnehmen, damit ich mich gesund und munter umbringen konnte?

      Ich schaffte es tatsächlich zu lächeln, als ich die Pillen in die Tasche warf. Dann ging ich wieder hinaus, schloss ein letztes Mal die Türe ab und warf den Schlüssel in den Briefkasten.

      Ich hatte vorhin, als hätte ich da schon gewusst was ich vorhatte, registriert, dass Saschas E-Bike nicht abgeschlossen war.

      Jetzt schaute ich mich nur kurz um, warf meine Tasche in den kleinen Anhänger, den Gedanken an Diebstahl über Bord und schwang mich in den Sattel.

      Ein letzter Blick zurück, ein Tritt in die Pedale und meine letzte Reise begann...

      Kapitel 2

      Knapp sechshundert Kilometer mit dem E-Bike zurückzulegen war eine ziemlich verrückte Idee. Aber allein, um Sohnemann eins auszuwischen und bis zum nächsten Bahnhof zu fahren, war es allemal den Spaß wert.

      Vorher hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie etwas geklaut. Nicht einmal als Kind. Und dies, obwohl meine Freunde aus Kindertagen bergeweise Wassereis hatten mitgehen lassen.

      Ich befürchtete immer drakonische Strafen meiner Eltern. Dabei waren sie nie streng gewesen. Aber dieses Gefasel (Du sollst ein guter anständiger Junge werden) hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. So blieb ich brav, anständig und unglücklich.

      Der altbekannte Weg Richtung Stadt flog an mir vorbei. Entlang des vermüllten Feldwegs donnerten Gedanken meines vergangenen Lebens wild hin und her und ließen mich die Fahrt vergessen. Ich dachte an meine Kindheit, Jugend und die Zeit danach.

      Alles begann doch so wunderbar. Wie konnte sich alles dermaßen geändert haben? Warum bestimmte das Schicksal über Wege, Planungen und Ereignisse? Der Hilferuf der Schwachen war stets nur ein Flüstern. Ein leiser Hauch, der das Mitleid derer hervorrief, die stark und vor allen Dingen gesund waren. Natürlich ist jeder seines Glückes Schmied, aber nur, solange das Feuer in der Esse brennt. Wenn die Glut nur noch ein Häufchen Asche war, war es das mit dem Glück.

      Was für ein blöder Spruch, dachte ich und fuhr schnurstracks über eine rote Ampel. Ein silberner Toyota kam mit quietschenden Reifen kurz vor meinem geklauten E-Bike zum Stehen.

      »Haben Sie noch alle Latten am Zaun?« Ein kräftiger Mann mit buntem T-Shirt und Bermuda-Jeans fiel förmlich aus der Tür und brüllte mir die Worte mit hochrotem Kopf entgegen.

      »Sorry, nicht gesehen,« stammelte ich und versuchte mich vom Schreck zu erholen.

      »Nicht gesehen, dass die Ampel rot ist?«, fragte der Mann und schoss direkt hinterher: »Sie können froh sein, dass ich noch rechtzeitig bremsen konnte.«

      Wäre auch nicht schlimm gewesen, hätte ich beinahe gesagt, schluckte die Bemerkung allerdings herunter. »Alles gut. Tut mir leid. Das haben Sie ganz toll gemacht,« sagte ich und überschüttete den Kerl, der mir gerade das Leben gerettet hatte, mit einer gehörigen Portion Zynismus.

      »Wollen Sie mich etwa verarschen?« Der Mann kam näher. Er war mindestens einen Kopf größer als ich, hatte eine Glatze und wirkte, trotz des bekloppten bunten Hemdes, recht durchtrainiert. Dass sich hinter seinem Wagen eine Schlange bildete und die ersten Ungeduldigen hupten und weiterfahren wollten, schien ihn nicht wirklich zu stören.

      Ich weiß nicht was mich geritten hatte, doch mit einem Mal wurde ich ungewohnt selbstsicher. Mit dem Gefühl, dass mir eigentlich alles völlig egal sein konnte, antwortete ich ihm: »Und jetzt? Wollen Sie mir eine reinhauen?«

      »Was? Hör mal, du wabbeliger Fettsack. Ich habe es eilig. Normal hau ich dich so um, dass es für dich kein Morgen mehr gibt.«

      Welch eine Ironie. Ich lächelte und die Glatze wurde langsam unsicher.

      »Sag mal, bist du besoffen?«

      Ich antwortete ihm nicht, lächelte nur und fuhr weiter. Möglich, dass er heute noch da steht. Es war doch alles so belanglos. Was sollte schon passieren?

      In der Nachbetrachtung wäre ich bei meinem Glück, an jedem anderen Tag wahrscheinlich im Krankenhaus gelandet. Querschnittsgelähmt, unfähig mich umzubringen. Der Worst Case. Das wäre typisch gewesen. Herrgott, es gab wirklich Leute, denen es noch dreckiger ging. Wahrscheinlich aber waren diese Leute nicht so depressiv. Wie sonst hätte man mit so einem Schicksalsschlag umgehen können? Und da waren sie wieder, die Starken und die Schwachen. Leider gehörte ich zur letzteren Kategorie.

      Die Sonne brannte vom Himmel. Ein Vormittag im Mai glich inzwischen einem Vormittag im Hochsommer. Nicht einmal eine Kappe hatte ich eingepackt. Meine dichte schwarze Haarpracht, die mir sonst immer ziemlich auf den Wecker ging, weil sie so schlecht zu bändigen war, rettete mich davor, dass ich mir den Schädel verbrannte.

      Eigentlich wäre dies ein perfekter Tag gewesen, um einen Ausflug zu starten, ließ man die Umstände außer Acht. Sonne, ein leichter Wind, Wiesen, Felder, kleine Wäldchen, alles was mir in den letzten Jahren verborgen geblieben war, lachte mich nun an. Vielleicht aber lachte mich die Natur auch nur aus. Haha, guck dir mal den Dicken auf dem Fahrrad an. Meine leicht halluzinierenden Gedanken führten dazu, dass ich glaubte, in einiger Entfernung Bäume zu sehen, die ihre Krone zusammenschoben und über mich redeten. Ich musste diesen Verfolgungswahn loswerden, dieses Gefühl ständig beobachtet zu werden. Immer die Ahnung zu haben, dass irgendjemand, der mich sah, lästerte, sich hinter meinem Rücken gnadenlos schlecht über mich ausließ. Aber es war so oder so zu spät. Mir konnte jegliches Lästern, jede Beobachtung meiner Person vollkommen gleichgültig sein, denn schließlich würde ich nicht mehr lange auf dieser kaputten Welt verweilen.

      Ich fuhr, wie ich annahm, Richtung Nordosten, Richtung Ostsee. Mein Ziel: Je weiter ich in diese Richtung fahre, umso günstiger würde das Zugticket werden. Mein Handy, der moderne Kompass, beließ ich in der Hosentasche.

      Inzwischen kannte ich die umliegenden Feldwege nicht mehr. Plötzlich lief mir ein Mann in grüner Latzhose schreiend entgegen. »Die Kuh, verdammt! Ich brauche Ihr Rad.«