Irene Dorfner

Tödliche Vetternwirtschaft


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Familie Haferstock nichts zu tun und kann Ihnen zu Gerald nichts sagen. Natürlich wusste ich, wer er ist und ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich mitbekommen habe, dass auch er hier in Töging wohnt. Die Welt ist wirklich sehr klein, glauben Sie mir. Wir sind uns hier im Ort ab und an über den Weg gelaufen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt wusste, wer ich bin. Er hat mich immer freundlich gegrüßt und das war’s auch schon. Was ist mit seinem Tod? Starb er nicht durch Herzversagen? Zumindest erzählt man sich das.“

      Leo und Hans wollten nicht auf die Fragen eingehen.

      „Wie ist es mit Ihren Kindern? Hatten die Kontakt zu Gerald Haferstock?“

      „Das kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich wissen sie alle von der Beziehung zur Familie Haferstock. Wir haben unsere Kinder offen erzogen und immer alles besprochen.“

      „Wir haben gehört, dass Ihre Kinder von verschiedenen Vätern seien?“

      „Bestimmt hat das die alte Giftspritze Elisabeth behauptet. Das hätte ich mir ja denken können, dass sie überall gegen mich und meine Familie schießt, dabei setzt sie skrupellos die wildesten Gerüchte in die Welt. Das macht sie schon, seit ich denken kann. Ich muss Sie enttäuschen: Ich bin nicht so schlecht und asozial, wie mich meine liebe Halbschwester gerne sehen möchte. Wir sind eine durchschnittliche, bürgerliche Familie, man könnte uns fast als spießig bezeichnen. Keine Vorstrafen, keine Konflikte mit den Behörden, einfach nichts, was man uns ankreiden könnte. Meine Kinder haben ein- und denselben Vater und sind alle sehr gut geraten. Zwei meiner Kinder haben studiert, einer hat sich mit einem Malerbetrieb selbständig gemacht. Meine Jüngste, die Chantalle, ist Hausfrau und managt einen 5-Personen-Haushalt. Mein Mann war immer ehrlich und fleißig, er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Leider hat er vor drei Jahren sterben müssen, Lungenkrebs.“

      „Das tut mir sehr leid Frau Wagenführ. Würden Sie bitte die Adressen Ihrer Kinder aufschreiben?“

      „Gerne. Obwohl ich nicht verstehe, was das alles soll. Aber Sie machen auch nur Ihre Arbeit.“

      Frau Wagenführ notierte mit Druckbuchstaben von allen vier Kindern Namen und Anschriften und übergab Hans den Zettel.

      „Dann war es das fürs Erste. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

      „Ach, das war doch nichts. Ich hätte gerne mehr geholfen, aber die Familie Haferstock ist für mich und meine Familie nicht existent.“

      „Eine Frage habe ich noch: Warum wohnen Sie hier in dieser Wohnung, in diesem Haus? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber eigentlich passen Sie hier in diese Wohngegend irgendwie nicht rein.“

      „Ich verstehe, was Sie meinen. Es stimmt schon, dass diese Siedlung in den letzten Jahren einen sehr schlechten Ruf bekommen hat. Daran ist die jeweilige Hausverwaltung, die sehr häufig wechselt, nicht ganz unschuldig, schließlich wird in diesen Häusern kaum mehr etwas gemacht. Als mein Mann noch gesund war und unser Freund und Nachbar Lothar hier noch gewohnt hat, haben sich die beiden immer bemüht, alles sauber und ordentlich zu halten. Aber das ging die letzten Jahre nicht mehr, die Krankheit hat meinem großen, starken Mann den Boden unter den Füßen entzogen. Er konnte nicht mehr. Und Lothars Frau ist gestorben, worauf er zu seiner Tochter nach Hamburg gezogen ist. Seitdem verkommt alles zusehends. Wir haben hier einen stetigen Mieterwechsel, die meisten bleiben nur vorübergehend und es ist ihnen vollkommen egal, in welchem Zustand sie die Wohnung, den Keller und das Treppenhaus hinterlassen. Oft werfen sie ihren Müll einfach auf die Straße. Natürlich beschwere ich mich regelmäßig bei der Hausverwaltung, aber entweder wollen die nicht oder sie können nicht. Und was soll ich alleine da machen? Ich könnte natürlich meine Kinder bitten, mir zu helfen. Aber die haben ihr eigenes Leben und ich möchte sie nicht damit belasten. Außerdem ist das ein Fass ohne Boden. Manchmal habe ich auch die Nase voll und würde lieber heute als morgen wegziehen. Aber ich wohne schon seit fast 40 Jahren hier. Als ich mit meinem Mann damals hier eingezogen bin, waren diese Wohnungen topmodern und nagelneu. Meine Kinder sind hier aufgewachsen und wir haben hier sehr viel erlebt. Ich habe die schönste Zeit meines Lebens hier verbracht. Und es leben noch ein paar Freunde in der Nähe. Abgesehen davon, dass an dieser Wohnung und an dem Haus viele Erinnerungen hängen, kenne ich mich in der Gegend sehr gut aus. Ich habe kein Auto, noch nicht mal einen Führerschein, dafür war nie Geld übrig. Ich habe hier alles, was ich brauche und fühle mich im Grunde genommen wohl.“ Das klang nicht sehr überzeugend und man spürte, dass Frau Wagenführ sehr unter der Wohnsituation litt. „Es gehen Gerüchte um, dass diese Wohnblöcke abgerissen werden sollen und neue, moderne Mehrfamilienhäuser gebaut werden. Aber wie soll ich die Miete dafür aufbringen? Um den günstigen Preis wie hier bekomme ich bestimmt keine Wohnung. Meine Rente ist nicht hoch. Wir haben damals den Fehler gemacht und haben uns meine Rente auszahlen lassen, dafür haben wir uns das Wohnzimmer gekauft. Hoffentlich ist das alles nur ein Gerücht.“ Sie lächelte gequält und ärgerte sich darüber, mit welchem Gerede sie die Polizisten belästigte, die sich bestimmt nicht dafür interessierten und besseres zu tun hatten, als sich ihre Probleme anzuhören.

      Das Haus von Gerald Haferstock war zwei Kilometer entfernt am anderen Ende Tögings im Ortsteil Waldfrieden. Durch die üppige Gartenbepflanzung war das Grundstück sehr gut eingewachsen und das Haus war vor neugierigen Blicken zum größten Teil geschützt. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer und Paula hatte wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Der Kühlschrank war ausgeschaltet und stand offen, ebenso der Gefrierschrank im Keller. Die Obstschale war leer, ebenso der Mülleimer in der Küche und der Papierkorb im Büro. Und die Post lag ordentlich auf dem Küchentisch.

      „Nichts besonders,“ sagte Hans, während er sich die Absender der geschlossenen Post ansah. „Am liebsten würde ich hier die Spurensicherung durchjagen, dann wüssten wir mehr. Aber dafür liegen keine Gründe vor, die das rechtfertigen würden.“

      „Ich schlage vor, wir sprechen noch mit den Nachbarn. Dann fahren wir in das Architekturbüro des Opfers. Und danach nehmen wir uns die Kinder von Frau Wagenführ vor.“

      Die Befragung der Nachbarn zog sich unendlich in die Länge, denn niemand kannte Gerald Haferstock näher und alle waren sehr neugierig. Die Polizisten bekamen keine vernünftige Aussage über etwaige Besucher, Hobbies oder besondere Vorkommnisse beim Verstorbenen. Selbst Paula Ritter wollte niemand gesehen haben oder sich deshalb nicht festlegen; keiner wollte Ärger mit der Polizei.

      „Immer dasselbe,“ schimpfte Leo. „Niemand weiß was, aber alle machen sich wichtig oder wollen keinen Ärger und schweigen lieber.“

      Das Architekturbüro Haferstock befand sich im Industriegebiet Neuötting in einem fast gläsernen Gebäude, in dem noch weitere Firmen untergebracht waren: Eine Anwaltskanzlei, ein Kfz-Gutachter, ein Grafiker und eine Praxis für Ergotherapie.

      Sie klingelten an der mit edlen Töpfen und Pflanzen dekorierten Tür und einen Augenblick später wurde diese von einer 56-jährigen Frau geöffnet, die übel gelaunt war.

      „Sie wünschen? Ich sage Ihnen lieber gleich, dass wir aufgrund eines Trauerfalls in nächster Zeit keine neuen Aufträge annehmen können.“

      „Zuerst einmal: Guten Morgen, so viel Zeit und Höflichkeit muss sein,“ sagte Hans mit einem freundlichen Lächeln. „Mein Name ist Hans Hiebler, Kripo Mühldorf, das ist mein Kollege Leo Schwartz. Wer bitte sind Sie?“

      Die verknöcherte Frau in ihrem cremefarbenen, engen Kostüm sah Leo von oben bis unten missbilligend an. Er war wie immer mit einer Jeans, Cowboystiefeln, einem T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband und einer Lederjacke gekleidet. Er war 1,90m groß, sehr schlank und seine Haare waren mittlerweile fast nur noch grau, was ihn anfangs störte und womit er sich inzwischen abgefunden hatte.

      „Winter ist mein Name, wie die Jahreszeit. Hannelore Winter.“

      „Dürfen wir reinkommen? Wir haben ein paar Fragen und können die auch gerne in diesem hellhörigen Treppenhaus klären.“

      „Um Gottes willen! Kommen Sie endlich rein!“

      Ein Mann kam die Treppe hoch und Frau Winter grüßte überaus freundlich. Hoffentlich hatte niemand im Haus mitbekommen, dass die Kripo bei ihnen war! In Neuötting und vor allem in diesem Gebäude