Serena S. Murray

Celeste - Siehst du mich?


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einmal allein.“ Die Frau lächelte ihn an, dann drehte sie sich um und verschwand.

      Ian starrte ihr hinterher und war nicht verwundert, dass sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen war. Kopfschüttelnd dachte er an ihre Worte.

      „Was meint sie mit ‚ich lasse euch allein‘?“, murmelte er verwundert vor sich her. Soweit er es beurteilen konnte, war er allein im Wald.

      Doch dann hörte er auch schon die Melodie, die leise an seine Ohren drang. Langsam drehte er sich einmal um die eigene Achse. Ihm stockte regelrecht der Atem, als er die durchscheinende Gestalt bemerkte, die im Schatten eines Baumes stand und ihn misstrauisch beobachtete. Ihre Erscheinung verschwamm immer wieder, doch er war sich ziemlich sicher, dass es sich bei dem Geist um eine Frau handelte. Nur eben nicht um die, die er in dem Haus in Chinatown gesehen hatte. Anders als eben überkam ihn nicht das Gefühl, in Gefahr zu sein.

      „Du weißt, dass es mitten am Tag ist, oder? Du bist der erste Geist, der einen Wald nicht nachts heimsucht.“ Seine Worte waren eher dazu gedacht, sich selbst zu beruhigen. Selbst in seinen eigenen Ohren klang er hörbar nervös.

      Der Geist bewegte sich nicht, sondern zog einfach ein Schwert aus einer Scheide hinter dem Rücken.

      „Woah!“, stieß Ian aus. Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen sah er dabei zu, wie die Geisterfrau ein Fragezeichen auf den Boden malte. Er wollte es nicht zugeben, aber seine Beine fühlten sich wackelig an, als er zögernd näher heranging, um vielleicht einen besseren Blick auf den Geist zu erhaschen. Ihr Mund bewegte sich, das konnte er erkennen, aber weder hörte er etwas, noch konnte er etwas an ihren Lippen ablesen.

      „Weißt du, du bist jetzt der zweite Geist, den ich deutlich sehen kann. Na ja, zumindest deutlicher. Die anderen waren bisher nur Schemen oder auch nur Lichter. Und normalerweise sehe ich euch nur nachts.“ Wieder fuhr sie mit der Schwertspitze das bereits gemalte Fragzeichen nach.

      „Was genau möchtest du denn wissen?“ Er konnte die Frustration der Geisterfrau beinahe körperlich spüren. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er das hier vielleicht lieber für sich behalten sollte. Es fiel ihm ja selbst schwer, das zu akzeptieren, was er mit seinen eigenen Augen sah und was er deutlich spürte. Wie konnte ihm dann jemand anderer glauben? Selbst bei James wusste er nicht richtig, ob sein Freund ihn dann nicht für verrückt halten würde.

      Der Geist deutete mit der Hand auf ihn und legte dann den Kopf schräg.

      „Du möchtest wissen, wer ich bin?“ Der Geist nickte und Ian konnte das Anzeichen eines Lächelns auf dem Gesicht erkennen, das er noch immer nicht so recht zu fassen bekam. Vielmehr schien es ihm, als ob ihr Körper immer dunkler wurde und fast mit dem Schatten des Baumes verschmolz.

      „Ich heiße Ian. Ian McMillan.“ Wieder bewegten sich die Lippen und wieder hörte er keinen Ton.

      „Kannst du mir deinen Namen verraten?“ Die Fremde hob das Schwert, doch letztendlich konnte Ian nicht mehr sagen, was sie damit vorhatte, denn ihre Gestalt wurde nun sichtbar dunkler, bis sie vollends verschwunden war.

      Ian trat an die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Die Melodie war ebenfalls verschwunden. Über sich hörte er eine Krähe und in einiger Entfernung das Lachen eines Paares, das nach ihrem Hund rief. Doch er blieb einfach stehen. Was fühlte er? Angst, Neugier und auch Faszination. Konnte er glauben, was er gerade gesehen hatte? Oder sollte er es lieber ignorieren?

      Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich losreißen konnte und sich auf den Rückweg zu seinem Mietwagen machte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu den beiden weiblichen Wesen zurück, die ihm viel Stoff zum Nachdenken gegeben hatten.

      Edrè

      „Celeste, du musst langsam aufwachen.“

      Sie spürte eine warme Hand an ihrem Gesicht, doch nur mit Mühe konnte sie sich aus der angenehmen Atmosphäre ihres Schlafes herausziehen. Immer wieder wollte ihr Unterbewusstsein abdriften, doch die Stimme hinderte sie daran. Erst nach einiger Zeit merkte Celeste, dass es Melina war, die die ganze Zeit mit ihr sprach.

      Als sie schließlich flatternd ihre Lider öffnete, sah sie sich einer besorgten Bergnymphe gegenüber, die ihr einen Becher Wasser an die Lippen hielt. Ohne einen Laut des Widerwillens von sich zu geben, schluckte sie die Flüssigkeit zusammen mit den Kräutern hinunter. Ihr Hals kratzte und ihr Nacken war steif, doch ansonsten ging es ihr gut.

      „Was ist passiert?“, fragte sie.

      „So genau weiß ich das nicht. Anfangs dachte ich, dass meine Magie dir Energie genommen hat und du deshalb so müde wurdest. Ich habe so etwas noch nie gemacht, wenn ein Mensch in der Nähe war. Aber du warst mit einem Mal so tief eingeschlafen, dass sich sogar dein Herzschlag extrem verlangsamt hat. Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmt.“

      „Ich habe seltsam geträumt und dann habe ich deine Stimme gehört.“

      Noch immer sah Melina sie besorgt an. „Kannst du aufstehen und ein paar Schritte gehen? Ich möchte sichergehen, dass dein Kreislauf nicht zusammengebrochen ist.“

      Nachdem Melina ihr geholfen hatte, sich aufzusetzen, stand sie aus eigener Kraft heraus auf. Nachdem sie ein paar Mal tief eingeatmet hatte, fühlte sie sich auch schon wesentlich besser. Nur ein paar Schritte von ihnen entfernt saß Azia auf einem Ast. Die Augen des Adlers waren unablässig auf Celeste gerichtet. Sie warf ihr ein beruhigendes Lächeln zu, ehe sie Melinas Bitte nachkam und einmal im Zickzack durch die Bäume lief.

      Sie hörte, wie ihre Freundin erleichtert ausatmete, während Azia einen hohen Ton ausstieß. Sie wusste, dass auch das Tier sich große Sorgen gemacht hatte.

      Es dauerte nicht allzu lang, da war Celeste wieder ganz und gar die Dunkle, deren Ausbildung ihr ein ums andere Mal das Leben rettete. In einiger Entfernung hörten sie erneut Geräusche, die nicht in den Wald passten.

      „Wir sollten aufbrechen“, sagte sie an Melina gewandt. Sie erkannte, dass die Bergnymphe ihr anfangs widersprechen wollte, doch dann siegte die Logik. Es war anzunehmen, dass noch mehr Monster im Wald unterwegs waren. Und Celeste musste dringend den Tempel erreichen und das am besten lebendig.

      Thalia wischte mit den Fingerspitzen über eine flache goldene Schale, in der sich dunkler Sandbefand. Sie mochte den daraus aufsteigenden Geruch, verriet er ihr doch, dass selbst in diesem kleinen Teil der Außenwelt Leben entstehen konnte. Leise murmelte sie Worte aus alten Gebeten, die sie vor langer Zeit in alten Büchern gefunden hatte. Die Hellen flogen aufgeregt um sie herum, nur die Weise Danae wich nicht von ihrer Seite.

      Als sie spürte, wie die einzelnen Sandkörner sich von allein bewegten, zog sie ihre Hand zurück und stellte die Schale auf den Boden vor sich. Nachdem sie sich selbst auf dem kalten Stein niedergelassen hatte, kristallisierte sich ein Frauengesicht aus dem Sand.

      Als ihr das beim ersten Mal passiert war, hatte sie vor Schreck die Schale fallen lassen. Es hatte sie über einen Monat gekostet, das heilige Ritual zu wiederholen, denn das Gesicht war spürbar beleidigt gewesen.

      „Was bedrückt dich, Thalia?“, hörte sie auch schon die bekannte Stimme zu ihr sprechen.

      Nervös sah sie sich noch einmal um. Sie konnte nicht vorsichtig genug sein. Wenn ihr Bruder wüsste, was sie hier unten in seinem Schloss trieb, hätte er sie vermutlich bereits vor die Tür gesetzt. Und im Grunde genommen konnte sie ihm das nicht einmal verdenken. Immerhin hatte sie sich lange schwer damit getan, welche Kräfte sie entwickelt hatte.

      „Ich fühle mich nicht gut“, antwortete sie auf die Frage hin.

      „Was meinst du? Sind deine gesundheitlichen Beschwerden zurückgekommen?“

      Thalia schüttelte den Kopf, wusste aber nicht, ob ihr Gesprächspartner das sehen konnte. Als Kind war sie ständig krank gewesen. Es schien fast so, als ob ihr Körper nicht bereit wäre, um in der Welt zu verweilen. Dadurch war sie zeit ihres Lebens isoliert gewesen. Nur durch ihre Familie hatte sie den Kontakt zur Außenwelt nicht verloren.

      „Ich