Tobias Fischer

Veyron Swift und das Juwel des Feuers


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wieder auf sein Tablet.

      Plötzlich zwickte Veyron Tom in den Oberschenkel. Das war das vereinbarte Zeichen für Gefahr im Verzug. Das Zwicken hatten sie schon auf dem Hinflug ausgemacht, falls einer von ihnen etwas Ungewöhnliches bemerken sollte.

      »Autsch! Was ist jetzt?«, blaffte Tom überrascht. Er hatte gerade einen wunderschönen Traum ersonnen, der sich irgendwie um die Schwarzhaarige drehte, als Veyron ihn so grob in die Wirklichkeit zurückholte.

      »Die Augen offen halten, Tom«, raunte sein Pate halblaut; eine gewisse Strenge schwang in seinen Worten mit.

      »Mach ich ja«, murrte Tom.

      Veyron war anderer Meinung. »Du lässt dich zu leicht von der Umgebung ablenken. Sie ist viel zu alt für dich, etwa um die dreißig, würde ich sagen. Sie wird sich garantiert nicht für einen pubertierenden Vierzehnjährigen begeistern.«

      »Pah! Was verstehen Sie schon von Frauen? Vielleicht steht sie auf jüngere Männer.«

      »Dazu musst du zuerst einmal ein Mann werden.«

      Tom verschlug es für einen Moment die Sprache. Das war heute schon das zweite Mal, dass er einer fantastisch aussehenden Frau begegnete. Wie oft kam so viel Glück über einen? Veyron hatte dagegen nichts als Spott für ihn übrig. »Jane hat recht! Sie sind echt fies! Sind Sie eigentlich immer so? Ich weiß gar nicht, was Sie gegen mich haben.«

      »Die Wahrheit ist selten nett. Jetzt halte die Augen offen.«

      Tom wandte sich beleidigt ab. Auf einmal fand er dieses Abenteuer gar nicht mehr so aufregend. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, was für eine Gefahr Veyron überhaupt entdeckt zu haben glaubte. Tom sah viel lieber in die Richtung, in der »Objekt Nr. 1« (so wollte er sie vorerst nennen) verschwunden war. Er fand sie in der vordersten Reihe, gleich vor den verhängten Glastüren der First Class. Sie sah sich kurz um, bevor sie sich setzte, ein suchender Blick, der Tom irgendwie verunsichert vorkam.

      »Was sie wohl macht? Sie ist hübsch«, meinte er leise und eigentlich mehr zu sich selbst.

      Veyron fühlte sich dennoch genötigt zu antworten. Leider, wie Tom fand. »Sie ist es gewohnt, Waffen zu tragen und abzufeuern. Zudem ist sie sehr versiert in Kampfsportarten und überhaupt körperlich sehr ausdauernd. Ich würde darauf tippen, dass sie Soldatin oder Elite-Polizistin ist. Vielleicht ist sie sogar Sky-Marshall oder Bodyguard, möglicherweise Söldnerin. Oder etwas Schlimmeres.«

      Tom ballte die Fäuste. Er fragte sich langsam, ob Veyron aus Spaß ständig anderer Meinung war. Besaß sein Pate wirklich einen dermaßen großen Drang, andere ständig zu verbessern und ihnen seine Meinung aufzuzwingen? »Woher wollen Sie das wissen«, fragte er zornig.

      Veyron seufzte enttäuscht. »Die Informationen lassen keinen anderen Schluss zu«, sagte er halblaut. »Da ist einmal die Art ihres Ganges. Er ist schnell und kraftvoll, präzise und diszipliniert gleichmäßig. Das deutet auf eine militärische oder paramilitärische Ausbildung hin. Zweitens: ihre Fingernägel; kurz und abgerundet, nicht geschnitten, nicht lackiert. Sie verrichtet mit den Händen praktische Arbeit und hält ihre Nägel deshalb kurz. Außerdem hat sie Schwielen auf den Handinnenflächen. Ich habe es gesehen, als sie vorhin jemandem gewinkt hat. Diese besondere Art Schwielen stammt vom häufigen Heben und Tragen schwerer, Gegenstände, Waffen und Munitionskoffer. Drittens: ihr Körperbau. Schlank, aber durchtrainiert. Ihre Schultern breit, die Oberarme stark, ebenso die Beine, die Statur muskulös, was alles auf sehr viel ausdauernden Sport und Krafttraining hindeutet. Jede Bewegung kontrolliert und geschmeidig, eindeutig das Ergebnis perfekter Körperbeherrschung, wie für Kampfsportmeister üblich. Viertens: ihr Blick. Schnell und fokussiert. Er hat das ganze Flugzeug binnen eines Augenblicks abgetastet und potenzielle Ziele von Nicht-Zielen unterschieden. Ich habe diesen Blick schon bei Scharfschützen der Polizei und beim Militär beobachtet. Du kannst mir vertrauen, sie ist eine Kriegerin.«

      Tom bedachte Veyron mit einem beleidigten Blick. »Ich finde, sie ist trotzdem sehr hübsch.«

      »Das ist irrelevant. Sieh hin«, hielt Veyron dagegen.

      Als wollte das Schicksal ihm auch noch recht geben, tauchte in diesem Moment ein Mann neben Toms Objekt Nr. 1 auf und setzte sich zu ihr. Er war groß und muskulös und besaß etwas Wildes und Animalisches. Ein Kerl, mit dem man sich besser nicht anlegte – und gegen den Tom keinesfalls in Konkurrenz treten konnte. Er seufzte frustriert und ließ sich gegen die Lehne plumpsen. »Sie hat einen Freund. Na klar, Sie wussten das natürlich bereits die ganze Zeit«, warf er Veyron vor.

      Doch sein Pate hörte ihm gar nicht zu, oder er ignorierte ihn einfach. Er hatte sich zurückgelehnt, die Fingerspitzen aneinandergelegt und war wieder schweigend in seine unergründliche Halbwelt aus Theorien, Fakten, Informationen und Analysen versunken, an der er keinen anderen Menschen teilhaben ließ.

      Die Supersonic wurde von den Schleppfahrzeugen auf die Rollbahn gezogen. Die beiden Piloten starteten die vier riesigen Triebwerke, der Tower erteilte Startfreigabe. Mit einer ungeheuren Kraft schoss das raketenhafte Flugzeug vorwärts, raste über die Startbahn und erhob sich in die Luft. Immer schneller stieg die Maschine in den dunklen, gewittrigen Himmel auf. Der Regen peitschte gegen ihren weißen Rumpf und schüttelte ihn durch. Aber die Supersonic war für solches Wetter gebaut, nichts konnte sie aufhalten oder ihren Start erschweren. Die Kraft der gewaltigen Triebwerke schob sie immer höher, hinein in die Wolken und schließlich darüber hinweg, zurück in die Helligkeit. Endlich wurde der Flug ruhiger. Die Supersonic schwenkte auf ihren Kurs: Europa, die untergehende Sonne im Rücken, welche die Wolken in rötliche Farben tauchte und die Hülle der Supersonic scheinbar glühen ließ. Die Piloten beschleunigten noch weiter, und nach wenigen Augenblicken durchbrach die Supersonic die Schallmauer. Sie ließ den amerikanischen Kontinent weit hinter sich. Unter ihr waren jetzt nur noch die Wolken und die blauen Weiten des Atlantiks.

      In der First Class entspannte sich Jessica Reed im riesigen Schalensessel. Es war kein Fehler gewesen, nicht mit dem Privatjet zu fliegen, das musste sie jetzt zugeben. Innerlich lobte sie Harry Wittersdraught für diese Entscheidung. Diese Sessel, die sich zudem elektrisch in eine Art Schalenpanzer zurückziehen konnten, waren weitaus bequemer als jene ihres eigenen Flugzeugs. Sie musste wohl ein paar Neuinvestitionen tätigen, wenn sie zurückkehrte. Zudem war es schon sehr beeindruckend, wenn sie auf dem kleinen LED-Bildschirm an der Rückenlehne des Vorsitzes MACH 1,8 lesen konnte. Sie liebte hohe Geschwindigkeiten. Derzeit gab es nichts Schnelleres am Himmel als die Supersonic – von Jagdflugzeugen einmal abgesehen. Vielleicht sollte sie sich eine ausrangierte Jagdmaschine kaufen, wenn sie aus Europa zurückkehrte.

      Ihre Gedankenspiele wurden jäh von einem Schatten unterbrochen, der in ihr Gesichtsfeld trat. Es war die hagere, ausgemergelte Gestalt eines dieser zugekifften Punkrocker, die ebenfalls in der First Class saßen und das Einzige an diesem Flug darstellten, das extrem störte. Bisher waren die Burschen still und friedlich gewesen, aber nun pöbelten sie plötzlich lautstark herum.

      »Hey, falls dir grade langweilig ist: Wir feiern da hinten eine kleine Privatparty, und Fisher meint, du wärst herzlichst eingeladen«, lallte der Rocker, Fizzler, wenn sie sich recht erinnerte. Sein rundes, leichenblasses Babygesicht mit den glasigen, grauen Augen und seine fettigen schwarzen Haare riefen sofort Ekelgefühle in ihr hervor.

      »Muss ich dir erst dahin treten, wo’s wehtut, oder ziehst du von allein Leine?«, fragte sie in lapidarem Tonfall, ohne ihn richtig anzusehen.

      Fizzler begann zu lachen. Zumindest hielt sie das spastische Keuchen, das er von sich gab, dafür. Er wandte sich seinen Kameraden zu, die alle um einen der großen Sitze herum auf dem Boden hockten. »Hey, Fisher! Die da ist großartig! Wow! Hey, weißt du was, Süße? Mit dir mach ich’s sofort«, lachte er.

      Jessica hob ihre Augenbrauen, überlegte, ob sie ihm sofort eine scheuern oder doch lieber Pfefferspray benutzen sollte. Dieser Fizzler war ganz und gar abstoßend, überhaupt nicht ihr Typ, selbst wenn er der letzte Mann der Erde gewesen wäre. Zwei Flugbegleiterinnen kamen herein und baten die Punks, sich wieder zu setzen, doch die antworteten nur mit wüsten Beschimpfungen. Die armen Frauen drohten verzweifelt mit dem Captain und mit Flugverbot, doch die Punks lachten sie nur aus.