Christine Schöpf

Mein Leben mit dir hat bereits begonnen


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Sandy gesprochen und Nelly hatte niemanden von dem Seitensprung erzählt, das war plötzlich alles so unwichtig geworden, nun, wo sie wusste, das Benno sterben würde.

      ,Wo bitte schön, hätte ich denn da an mich denken sollen?‘, Nelly umfasste ihre Oberarme so stark, dass sie morgen bestimmt blaue Flecken dort haben würde. Sie hatte in den letzten Monaten abgenommen, was an sich nicht wirklich schlimm war, von Kleidergröße 44 auf 38 ist nicht lebensbedrohlich, aber durch die Gewichtsabnahme fühlte Nelly sich noch verletzlicher, verwundbarer und in ihren zu groß gewordenen Sachen noch verlorener.

      Die Apothekerin kannte sie mittlerweile so gut, dass sie, ohne zu fragen das Medikament aus dem Hinterzimmer holte und wortlos die Tüte auf den Tresen stellte. Sie fragte Nelly schon lange nicht mehr wie es ihr ginge, und auch das Wetter war schon lange kein Thema mehr zwischen den beiden. Sie nahm das Rezept entgegen und reichte Nelly wortlos die Tüte mit dem Morphium. Die Apothekerin versuchte dennoch ein Lächeln - ein trauriges Lächeln, aber Nelly konnte es nicht erwidern.

      „Danke“, sagte Nelly und verließ raschen Schrittes die Apotheke

      Zuhause schloss sie leise die Wohnungstüre auf und lauschte. Es war still und sie konnte das Sauerstoffgerät monoton schnarren hören. Fast geräuschlos zog sie Schuhe und Mantel aus und steckte erst dann ihren Kopf durch die Schlafzimmertür.

      Benno lag bleich, aber ruhig schlafend im Bett. Danach schaute sie ins Gästezimmer, Lina die Pflegerin lag quer und komplett bekleidet ebenfalls schlafend im Bett. Nelly musste lächeln, sie kannte Lina seit der Diagnose von Bennos Krankheit und sie war eine von drei Pflegekräften, die Benno und sie sich ausgesucht hatten.

      Das Zimmer in dem Lina erschöpft schlief, war früher mal ihr Arbeitszimmer gewesen. Eigentlich hatte es nur Benno wirklich genutzt, aber er hatte darauf bestanden, dass auch sie dort einen Schreibtisch aufstellte. Beim Kauf der Wohnung hatte Nelly gehofft, dass dies einmal das Kinderzimmer werden würde, deshalb hatte sie auch über den fehlenden Balkon hinweggesehen. Doch nun war das angedachte Kinderzimmer, das Gästezimmer für das Pflegepersonal, Nelly schluckte.

      Die Maklerin hatte ihnen damals auch die Hoffnung gemacht, dass über eine Balkonanlage im Hinterhof nachgedacht werden würden, aber tatsächlich wurde damals bei der Eigentümerversammlung gegen eine Balkonanlage und für eine Feuertreppe gestimmt. In dem Haus wohnten viele ältere Leute und die Fluchttreppe gab ihnen wohl das Gefühl der Sicherheit, sich bei Brand selbst retten zu können. Nelly hatte diese Logik nie verstanden, aber Sicherheit war ihren Nachbarn insgesamt sehr wichtig, deshalb hatten sie auch euphorisch eine Nachbarschaftswache gegründet.

      Jede Wohneinheit hatte einen Pieper bekommen, den man, wenn man ihn nicht bei sich trug, neben seiner Wohnungseingangstür deponieren sollte. Sie hatte ihn noch nie benutzt, und hoffte, dass wenn sie ihn tatsächlich mal bräuchte, nicht die Batterie leer war.

      Das wäre allerdings so typisch für sie.

      Nelly stellte das Medikament aus der Tüte auf die Küchenanrichte zu all den anderen Medikamenten, und als sie die Tüte zusammenfalten wollte, spürte sie etwas kleines rundes hartes darin. In der Tüte befand sich ein kleiner Marienkäfer aus Holz, der auf einem vierblättrigen Kleeblatt geklebt war. Daran war ein Post-it befestigt mit der handgeschriebenen Nachricht: Ich wünsche Ihnen viel Kraft.

      Nelly traten die Tränen in die Augen.

      „Nelly?“, hörte sie Benno leise rufen.

      Sie rieb sich die Augen trocken, während sie schon auf dem Weg zum Schlafzimmer war.

      „Ich komme.“ Nelly ging zu dem Pflegebett und strich Benno das feuchte Haar von der Stirn und küsste ihn vorsichtig auf die Wange.

      „Hast du geweint?“ fragte er und schaute ihr in die Augen.

      „Habe ich dich geweckt?“, fragte Nelly statt einer Antwort.

      „Nein, eigentlich nicht. Ich denke, es waren wohl eher die Schmerzen,“ Benno stöhnte auf.

      „Könnte ich bitte etwas gegen diese Schmerzen bekommen?“

      Nun musste Nelly tatsächlich lächeln, er war trotz der starken Schmerzen noch so höflich danach zu fragen. Sie würde wahrscheinlich schreiend und tobend die Medikamente einfordern und jeden zum Teufel wünschen, der ihr diese nicht binnen Sekunden verabreichte.

      „Natürlich, du kannst so viel haben, wie du möchtest- auf Anweisung deines Arztes. Er kommt übrigens morgen Mittag vorbei, um nach dir zu schauen“.

      Nelly ging in die Küche und packte die Infusion aus, warf einen kurzen Blick auf den Marienkäfer und brachte dann Benno das Morphium ins Schlafzimmer. Benno lag, mit vor Schmerzen zusammengekniffenen Augen, im Bett und sie beeilte sich die Infusion anzulegen. Zum Glück hatte Benno seinen neuen Port, so musste Nelly die Infusion nur an den Ständer hängen und ein paar Schläuche umstecken. Benno konnte sich anhand einer Handpumpe das Morphium normalerweise selbst dosieren, das aber übernahm Nelly jetzt für ihn und hörte erst auf zu drücken, als sich sein Gesicht entspannte.

      Er murmelte noch ein „Danke...“ und glitt dann- wie Nelly wusste- in einen betäubenden Schlaf, der ihm die Schmerzen für kurze Zeit fast vollständig nehmen würde.

      ,Noch‘, dachte Nelly, den die Ärzte hatten ihnen bereits angekündigt, dass sie die Schmerzen irgendwann auch nicht mehr mit Schmerzmitteln in den Griff bekommen würden.

      Nelly legte ihm die Handpumpe griffbereit an das Bett und legte sich dann auf ihre Liege, die mit in dem Schlafzimmer stand. Schon lange teilten sie sich nicht mehr ein Bett. Nach dem Seitensprung von Benno hatte Nelly angefangen im Wohnzimmer zu schlafen und danach, als Benno nachts Hilfe brauchte, hatte Nelly sich die Liege im Schlafzimmer aufgestellt und das Doppelbett war einem Pflegebett gewichen. Nellys Kopf berührte noch nicht das Kopfkissen, da war sie auch schon eingeschlafen.

      Nelly wurde durch das Klingeln des Telefons wach und hörte dann Lina mit jemanden telefonieren. Sie reckte sich, und bemerkte, dass ihr ganzer Körper schmerzte.

      ,Ich hätte vielleicht doch nicht die preisgünstigste Liege nehmen sollen,‘ dachte Nelly und streckte sich erneut.

      Nelly schaute auf die Uhr, und stellte verwundert fest, dass sie fast 5 Stunden geschlafen hatte. Sie reckte sich erneut und schaute zu Benno rüber, er hielt die Handpumpe in der Hand.

      ,Er hat sich wohl noch mal einen Nachschlag gegönnt‘, dachte Nelly müde. Dann stieg sie leise aus dem Bett und ging zu Lina rüber ins Wohnzimmer, die mittlerweile das Telefonat beendet hatte.

      „Tut mir leid, dass ich erst so spät am Telefon war. Es war Herr Dr. Schumacher und er wollte nur an seinen morgigen Hausbesuch erinnern.“

      Nelly runzelte die Stirn, es waren gerade mal ein paar Stunden her, das er ihr diesen Termin mitgeteilt hatte, sie hatte wohl einen noch verstören deren Eindruck hinterlassen als sie befürchtet hatte.

      „Ich mache uns jetzt mal einen starken Kaffee und du gehst währenddessen duschen“. Lina drückte Nelly in Richtung Bad und zog selbst Richtung Küche ab.

      Als Nelly wieder aus dem Bad kam roch sie bereits den Kaffeeduft. Benno schlief noch, jedoch wälzte er sich jetzt unruhig im Bett hin und her. Nelly zog sich leise einen Jogginganzug an und ging dann zu Lina in die Küche. Als sie sich gerade eine Tasse aus dem Schrank nahm klingelte es an der Türe. Sie erwartete niemanden und hatte auch keine Lust auf Besucher, aber Lina drückte bereits den Türöffner.

      „Egal wer das ist, wimmle ihn ab. Benno schläft und ich bin nicht auf Besucher eingestellt“, Nelly zeigte mit der freien Hand an sich herab.

      Lina nickte und ging bereits zur Tür.

      „Oh, die Hanna!“, Lina stand an im Türrahmen und zog das Türblatt weiter zu.

      „Heute ist kein besonders guter Tag für einen deiner spontan Besuche. Du hättest besser vorher mal anrufen sollen, denn du hast den Weg umsonst auf dich genommen“, hörte Nelly Lina sagen.

      Ihre Stimme war nicht besonders freundlich, und man konnte die Genugtuung in ihrer Stimme hören.