Stefan Högn

NESTOR


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haben Angst vor Sachen, die sie nicht kennen. Und kleine gelbe Mädchen mit Schlitzaugen könnten schließlich auch Dämonen sein«, fuhr Nestor fort.

      »Ich glaube, die Omi gerade war ein Dämon. So ein böses Biest!« Lilly verzog den Mund und Nestor musste lachen.

      Die Gegend wurde immer urbarer. Getreidefelder tauchten auf, Hirten saßen dösend im Olivenschatten und ab und zu ergänzten Weinfelder die Landschaft. Sie erreichten eine Straße, der sie weiter folgten. Hin und wieder überholte sie ein Reiter. Die wenigen Eselskarren waren langsamer als Nestor und Lilly. Ansonsten war wenig Betriebsamkeit zu spüren, bis es langsam dunkel wurde und sich am Horizont das glitzernde Mittelmeer und Häuser einer Stadt mit beleuchteten Fenstern zeigten.

      »Wir müssen uns eine Herberge suchen. Ich bin müde!«, sagte Nestor.

      »Ich auch.« Lillys Feuereifer zu Beginn der Wanderung war inzwischen verflogen.

      XI

      Catania

      Lilly hatte sich eine Stadt vor 2.500 Jahren ganz anders vorgestellt. Sie kannte Hongkong aus dem Jahr 1921 und London im 21. Jahrhundert. Beides waren riesige Städte, die eigentlich nie schliefen und auch nachts an den meisten Stellen so hell waren, das man sich schnell und sicher bewegen konnte.

      Catania unterschied sich davon deutlich. Die Straßen verliefen ungeordnet, nur wichtige waren gepflastert und eine Straßenbeleuchtung fehlte völlig. Kaum ein Mensch lief ihnen über den Weg und in den meisten Häusern, die sie passierten, herrschte völlige Stille. Das wenige Licht, das die Straßen erhellte, kam von Häusern deren Bewohner sich noch nicht zur Ruhe begeben hatten, obwohl es noch gar nicht lange dunkel war. Am Hafen herrschte etwas mehr Betriebsamkeit und hier und da erleuchten Feuerkörbe und Fackeln die Kais. Dort fanden sie ein Haus, aus dem erstaunlich viel Lärm drang: eine Taverne.

      Nestor betrat als erster den Schankraum, der nicht durch eine Tür verschlossen wurde, und Lilly folgte ihm so dicht wie möglich, denn dieser Ort war alles andere als beruhigend.

      Er ging auf die Theke zu, die erheblich niedriger als heutige war, und an der auch keine Menschen saßen. Die Gäste drängten sich an Tischen und Bänken, die eng gestellt die Taverne füllten. Der Wirt sah zu ihm auf, als er gerade viele Tonbecher mit rotem Wein füllte.

      »Seid gegrüßt, Herr! Was hat euch in mein ehrenwertes Haus geführt?«, fragte der Mann hinter der Theke gespielt freundlich.

      »Der Wunsch nach einem Nachtmahl und Unterkunft für mich und meine Dienerin, Wirt!«

      »Ihr habt Glück, Herr, dass die Götter eure Füße zu mir geführt haben. Wie es der Zufall will, habe ich noch ein letztes Zimmer frei – und es ist sogar das Beste in meiner Herberge. Habt ihr noch mehr Gesinde, so bringt sie nur herein. Im Hof ist Platz genug.«

      »Ich schlafe unter keinen Umständen im Hof!«, protestierte das Mädchen aus China.

      »Habt ihr eurer Dienerin zu viel Wein gegeben, Herr?«, stutze der Wirt.

      »Wie ist dein Name, Wirt?«, wollte Nestor wissen.

      »Lakis, stets euer Diener!«

      »Hör zu Lakis! Diese Dienerin stammt direkt von den fernen Völkern am östlichen Meer. Kannst du dir vorstellen, wie wertvoll und selten sie ist?«

      »Nein, gewiss nicht, Herr, verzeiht Herr!«, entschuldigte sich Lakis ölig.

      »Ich wünsche für sie ein Extrazimmer, und zwar direkt neben meinem. Verstanden?«

      »Oh, ich fürchte, das wird nicht ganz so einfach werden. Da müsste ich ein oder zwei Gäste umquartieren. Eine sehr unangenehme Geschichte, versteht ihr, Herr?«, wand sich der Wirt und es war sonnenklar, dass Lakis einfach nur mehr Geld herausschinden wollte.

      »Egal! Bring’ uns vorher etwas zu Essen und zu trinken. Danach kümmere dich um die Zimmer!«, befahl Nestor.

      »Selbstverständlich, Herr! Nehmt Platz, dort bei den Matrosen ist noch etwas frei.« Lakis zeigte auf einen nicht ganz besetzten Tisch.

      Lilly und Nestor schauten sich an und gingen dann zum Tisch. Die Matrosen schauten verwundert auf, als sie den Mann und das Mädchen neben sich sahen und rückten nur widerwillig zusammen und ihr Gespräch wurde auffällig leiser. Scheinbar waren sie so feine Gesellschaft nicht gewohnt.

      »Seid gegrüßt, Männer!«, sagte Nestor knapp, nahm Platz und bedeutete Lilly sich ebenfalls zu setzen.

      Das Mädchen setzte sich wortlos hin und betrachtete das Gasthaus und seine Gäste. Die Seemänner an ihrem Tisch nahmen nur kurz Notiz von den beiden und erreichten bald wieder ihre ursprüngliche Lautstärke. Überhaupt war es sehr laut. Niemand schien auf die anderen zu achten. Hier wurde über einen schlechten Herrn gelästert, dort über einen schlechten Sklaven. Die Einen beschwerten sich der Wein wäre zu teuer, die Anderen klagten das Getreide wäre zu billig. Niemand war zufrieden und durch die immer wieder gefüllten Weinbecher beharrte jeder immer deutlicher auf seinem Standpunkt. Es wurde laut gestritten, aber auch laut gelacht.

      Nur die Männer, die mit jungen Damen in irgendwelchen Ecken schmusten, waren eher leise. Der Schankraum war erstaunlich groß, ungefähr zwanzig mal zwanzig Schritt, und neben dem Schanktresen führte eine hölzerne Treppe in das obere Stockwerk. Auf jedem Tisch standen einige Öllampen und in der Nähe des Eingangs flackerte eine Fackel, wohl damit der Wirt besser sehen konnte, wer die Kneipe betrat.

      »Hätte es bessere Zeitalter gegeben, in die wir hätten reisen können?«, fragte Lilly ihr Gegenüber so leise wie möglich.

      »Oh, ja!« Nestor schob die Unterlippe vor und nickte.

      »Du warst bestimmt schon oft in dieser Epoche, oder?«

      »Wie hätte ich denn sonst an die Münzen herankommen sollen, Lilly?«

      Eine junge Frau brachte einen Krug Wein, der mit Wasser gemischt war, zwei Becher, Fladenbrot, Oliven und kaltes Fleisch an ihren Tisch, sagte dabei aber keinen Ton.

      Nestor bediente sich reichlich und auch Lilly hatte großen Hunger. Beim Trinken hielt sie sich allerdings zurück. Ihr Wissen um die Kung-Fu-Lehren gestatteten es ihr nicht, Wein zu trinken. Das Fladenbrot war erstaunlich lecker und auch die Oliven waren von einer Qualität, die das Mädchen nicht erwartet hatte. Das kalte Fleisch war fad, aber immerhin nicht zäh.

      »Hier trachtet auch jeder nur nach seinem Vorteil, oder?«, wollte Lilly wissen.

      »Allerdimf!« Nestor hatte den Mund voll und brauchte eine Weile, bis er richtig antworten konnte: »Das ist zu fast allen Zeiten so. Darum habe ich auch kein Problem damit, auf meinen Vorteil zu achten.« Er warf sich genüsslich eine Olive in den Mund und spülte mit reichlich Wein nach.

      Die Matrosen stimmten plötzlich ein Lied an und sangen so laut, dass eine weitere Unterhaltung völlig unmöglich war. Mehr und mehr Gäste stimmten in den Refrain ein, der mehrmals wiederholt wurde, dann lachten alle und beschäftigten sich wieder mit ihren Gesprächspartnern.

      »Aber ihren Spaß scheinen sie zu haben«, stellte die Chinesin erfreut fest.

      »Auch das war zu fast allen Zeiten so!«

      Plötzlich stand der Wirt an ihrem Tisch und sagte, dass die Zimmer bereit wären und sobald sie wollten, bezogen werden könnten. Die beiden einigten sich darauf, erst aufzuessen und dann zu Bett zu gehen.

      Sie folgten dem Wirt die Treppe hinauf, der in ihren Zimmern Öllampen entzündete und eine Gute Nacht wünschte. Lilly und Nestor einigten sich darauf, dass wer als erstes wach würde, den anderen wecken solle. Daraufhin wünschten auch sie sich eine Gute Nacht und verriegelten von innen ihre Zimmertüren mit einfachen Holzbalken, die aber einen sicheren Schutz vor Eindringlingen boten.

      Das Mädchen war viel zu müde, um sich lange über den Lärm, das harte Lager und die Decke zu ärgern, die nach altem, staubigen Schweiß roch. Auch Nestor Nigglepot legte sich sofort hin, allerdings hatte er an dem Atalandor vorsichtshalber noch die Alarmanlagenfunktion aktiviert und löschte das Licht.

      »Heyhoo!«,