Stefan Högn

NESTOR


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E-Mails, wohl ein asiatisches Mädchen in London gesehen.«

      »Das ist ja sensationell, Miranda!« Der Chief Inspector verdrehte die Augen. »Jedes Jahr besuchen 27 Millionen Touristen die Stadt. Die meisten sind Amerikaner, Japaner und Chinesen. Und von den Amerikaner sehen auch nochmal zwanzig Prozent aus wie Asiaten. Der Kerl kann mir gestohlen bleiben! Sagen sie ihm das! Und jetzt besorgen sie mir bitte einen neuen Bilderrahmen. Haben wir uns verstanden?«

      »Wie sie meinen, Chief«, sagte Miranda und zockelte mit dem Staubsauger aus Fazzolettis Büro.

      Im Vorzimmer begrüßte sie Superintendent Philander mit warmen Worten: »Guten Morgen, meine Liebe! Alles in bester Ordnung bei ihnen? Bestimmt. Sagen sie, machen sie immer noch diesen wunderbaren Tee? Ich vermisse ihn jeden Morgen.«

      »Aber Sir, das sagen sie doch bestimmt zu allen ihren ehemaligen Sekretärinnen, oder?« Miranda lächelte ihn an.

      »Aber Amanda, wo denken sie hin ...«, antwortete der Vorgesetzte von Fazzoletti und fuhr fort: »Sagen sie, was macht Fuzzy? Arbeitet er heute oder ist er nur da? Ich würde mich gerne kurz mit ihm unterhalten, zusammen mit unserem erstaunlichen Gast hier!«

      Miss Miranda hatte den anderen Herrn noch gar nicht wahrgenommen, aber scheinbar stand dieser Mann schon genauso lang in ihrem Büro wie Philander. Er war klein, schlank und blass, geradezu leichenblass.

      »Verzeihung, Sir! Guten Morgen, Sir!«, wandte sie sich an Grafula und dann wieder zu dem Superintendent: »Oh, der Chief Inspector ist in seinem Büro und ich denke, er ist auch zu sprechen.«

      »Na, dann kommen sie nur, Grafula! Wir beißen nicht!«, sagte Philander und freute sich über seine witzige Bemerkung.

      »Ausgesprochen beruhigend ...«, entgegnete der Halbvampir gelangweilt.

      Die beiden betraten ohne anzuklopfen das Büro des Chief Inspectors, der völlig in aktuelle Fußballwettquoten im Internet versunken war.

      »Morgen, Fazzoletti!«, dröhnte Philander ohne Vorankündigung. Er hätte dem Chief auch in den Rücken schießen können, der Schock wäre der gleiche gewesen.

      »Superintendent ...«, jappste der Untergebene.

      »Was recherchieren sie denn da Hübsches?«

      »Ähm, äh ... Kornkreise, Sir!«

      »Kornkreise?«, hakte sein Chef nach.

      »Ja, ähm, diese mysteriösen Dinger, diese runden Dinger ... in Kornfeldern ... Kornkreise, Sir.«

      »Und?«

      »Was und?« Fazzoletti bekam noch immer schlecht Luft und war noch nicht komplett in den Dem-Erzähl-Ich-Was-IchWill-Modus gewechselt.

      »Irgendwelche Fortschritte?«

      »Fortschritte? Ähm, ja ... nein. Nein, eigentlich nein. Sie sind nach wie vor rund.« Er hatte seine Fassung wiedererlangt. »Bisher haben wir noch keine eckigen Kornkreise entdeckt, Superintendent!«

      »Sehr schön! Aber ich fürchte, diesen Fall müssen sie eine Weile zu den Akten legen.« Philander sah zu Grafula hinüber und tätschelte dessen rechte Schulter: »Dieser Mann hier möchte uns helfen, dem vermutlich gewieftesten Verbrecher aller Zeiten auf die Spur zu kommen.«

      Der Halbvampir ging auf den Chief Inspector zu und reichte ihm die Hand. »Grafula ... einfach nur Grafula!«

      »Fazzoletti. Chief Inspector Fazzoletti«, stammelte der Chief zurück.

      Grafula sah das Bild von Onkel Fuzzy, nahm es ungefragt in die Hand und betrachtete es sorgsam. »Ihr Vater?«

      »Nein, Sir ... mein Onkel.«

      »Er scheint ihnen ähnlich zu sein, Fazzoletti«, sagte der Halbvampir.

      »Vielen Dank! Er war ein fleißiger Polizist, der seine Aufgaben stets gewissenhaft erledigt hat«, antwortete Fazzoletti.

      »Davon bin ich überzeugt.«

      Der Superintendent nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und ergriff das Wort: »Fazzoletti, unser Freund hier hat sich direkt an mich gewandt, weil sie scheinbar andere Aufgaben für wichtiger hielten, als mit ihm in Kontakt zu treten.«

      »Nun ja, diese Kornkreise ...«

      »Schon gut, wir machen ja alle nur unsere Arbeit. Ich denke aber, nein besser noch: ich spüre, wir haben hier einen Fall, der keinen weiteren Aufschub duldet.«

      »Sicher, Sir, wenn sie meinen ...« Der Chief Inspector hasste es, wenn sein Vorgesetzter irgendetwas spürte.

      »Grafula, ich denke sie sollten ihre Ausführungen, die sie mir vorhin mitteilten, für den Chief wiederholen.«

      »Gerne.« Grafula ging zum Fenster und schaute hinaus. »Irgendwo in diesem Land befindet sich ein Mann, der es seit Jahrhunderten, ja sogar seit Tausenden von Jahren verstanden hat, die gesamte menschliche Gesellschaft zu betrügen, zu bestehlen und für seinen eigenen Vorteil zu hintergehen.«

      »Abgesehen von ihrer Zeitangabe trifft das hier in London ja wohl auf jeden normalen Banker zu«, warf Fazzoletti ein.

      »Sie verstehen nicht.« Der Halbvampir sah den Chief Inspector mitleidig an. »Nestor Nigglepot hat sie vermutlich um eine wesentlich glücklichere Vergangenheit betrogen!«

      Fazzoletti dachte an die Jahre in diesem Büro. »Das wage ich aber zu bezweifeln.«

      »Unfug! Sie können das überhaupt nicht beurteilen! Ich habe seit ebenso vielen Jahren versucht, diesen Mann zu finden und ihn der Justiz zu überstellen!«

      »Wie wollen sie denn das bewerkstelligt haben?«

      »Ich bin unsterblich!«

      »Sie müssen ihn mal ihren Puls fühlen lassen«, warf der Superintendent ein.

      »Puls fühlen?«, fragte Fazzoletti.

      Grafula reichte dem Chief seinen linken Unterarm und zog mit der rechten Hand die Manschette zurück. Fazzoletti suchte vergeblich den Pulsschlag, stand auf und wühlte in Grafulas Kragen nach den Halsschlagadern. Nichts! Kein Puls.

      »Das ist unmöglich!« Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte es der Chief Inspector wirklich mit einem übernatürlichen Phänomen zu tun.

      »Sagen wir lieber, ausgesprochen selten«, sagte Grafula und erläuterte seine Geschichte, während Fazzoletti mit offenem Mund da saß und sich wünschte irgendwer hätte seine Vergangenheit beeinflusst und er müsste jetzt nicht in diesem Büro sitzen.

      »Sie können sich wirklich in eine Fledermaus verwandeln?«, gruselte es den Chief Inspector.

      »Ja, Grafula, das müssen sie machen. Das ist einfach großartig, Fazzoletti. Schauen Sie!«, mischte sich der Superintendent wieder ein.

      »Muss ich?« Der Halbvampir klang gequält.

      »Aber ja doch! Das ist noch besser als das mit dem Puls. Na, los!« Philander ließ nicht locker.

      Grafula holte tief und lang Luft, aber das hatte noch nichts mit der Verwandlung zu tun, sondern sollte nur seiner Unlust Ausdruck geben. Dann verkrümmte er sich, gab sehr merkwürdige Geräusche von sich, zuckte mehrfach und wurde dabei immer kleiner, bis er in seiner Kleidung verschwand. Ein paar Sekunden später krabbelte eine Albino-Fledermaus aus einem der Jackenärmel und machte ein paar verzweifelte Versuche, die eher an rhythmisches Hopsen als an Fliegen erinnerten.

      »Und?«, fragte der Superintendent seinen Untergebenen begeistert. »Ist das nicht der Hammer?«

      Fazzoletti hätte bestimmt etwas gesagt, aber er war schon seit dem Verschwinden von Grafula in der Kleidung ohnmächtig.

      XIII

      Vier

      »Guten Morgen, mein Herr«, begrüßte der Sklavenhändler seine Kundschaft überschwänglich. Er war ein rundlicher Mann mit dunklen krausen Haaren, einem kurzen Vollbart und sehr kurzen