Stefan Högn

NESTOR


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Wichtiges heute Morgen?«

      »Der Drucker ist noch nicht fertig!«

      »Herrgott nochmal, wann werden diese Dinger endlich mal schneller«, freute er sich. Waren die Computer langsam, konnte er sich aufspielen.

      »Ich bringe ihnen die E-Mails, wenn der Tee fertig ist.«

      »In Ordnung, Miranda!«, er ging in sein Büro, hängte seinen Schal an den oberen und seinen Mantel an den unteren Haken neben der Glastür, die er lustlos zuschnappen ließ.

      Dann drehte er die Tür-Jalousie ein Stück zu und ging zum Fenster. Mit den Händen hinter dem Rücken dachte er: »London! Die größte Stadt des Landes ... nirgendwo leben mehr Menschen in Europa auf einem Haufen als hier. Und alle sind Idioten!«

      Er fläzte sich in seinen Sessel und wackelte an seiner Maus, aber der Computer regte sich nicht.

      »Miranda!«, brüllte er durch die geschlossene Tür ins Vorzimmer. »Das Drecksding tut’s schon wieder nicht!«

      Miss Simmons drückte eine Taste auf der Sprechanlage und die Antwort summte aus dem Lautsprecher auf Fazzolettis Schreibtisch: »Sie müssen den PC an dem großen runden Knopf auf dem Gehäuse einschalten ... wie immer. Sie vergessen ihn abends auszumachen, was ich dann für sie mache, und morgens vergessen sie ihn anzumachen.«

      »Ist der Tee endlich fertig?«, antwortete Fazzoletti, diesmal ebenfalls in die Sprechanlage, jedoch drückte er die Taste für allgemeine Durchsagen.

      »In einer Minute, Chief!«

      Chief Inspector Fazzoletti liebte es, wenn seine Untergebene Chief zu ihm sagte. Es war der glasklare Beweis, dass er es zu etwas gebracht hatte: Karriere bei der London Metropolitan Police. Sein Onkel wäre stolz auf ihn gewesen, denn die Fazzolettis waren eine Familie, die seit Jahrhunderten ihre Besten in den Staatsdienst schickte, und so die Fackel der Gerechtigkeit von Generation zu Generation weiter gaben.

      »Mit einem Fazzoletti bei der Polizei wird dieses Land immer die einzige Großmacht des Planeten bleiben«, hatte Onkel Fuzzy ihm in ein Sherlock-Holmes-Taschenbuch zu seinem achten Geburtstag gewidmet.

      »Schöner Blödsinn, Onkel Fuzzy!«, sagte Fazzoletti zu sich selbst und betrachtete das Foto seines Verwandten, das rechts neben der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch stand. Seine Kollegen hatten Fotos von Frau und Kindern, Hunde oder anderen rührseligen Quatsch eingerahmt um sich aufgebaut. Ein Chief Inspector wie er hatte nur seine Karriere im Blick, und das bedeutete möglichst wenig Aufwand bei bestmöglicher Bezahlung. Und seine Spezialeinheit war ein sicherer Hafen für alle, die ihn auf diesem Weg begleiten wollten.

      Miranda öffnete unbeholfen mit dem Ellenbogen die Bürotür, in der einen Hand ein kleines Tablett mit Tee, Zucker und Sahne, in der anderen Hand alle ausgedruckten E-Mails, die ihrer gestapelten Ordnung bald zu entweichen schienen. Sie schloss die Tür mit dem linken Fuß und beeilte sich den Schreibtisch ihres Chefs zu erreichen, bevor es ein Malheur gab. In letzter Sekunde schaffte sie es, das Tablett sicher abzustellen. Der Stapel E-Mail-Ausdrucke verlor jedoch seinen Halt und fächerte sich fallend über Tisch und Boden aus, wobei er Onkel Fuzzy mit in die Tiefe riss. Der billige Glasrahmen aus dem Baumarkt wehrte sich kaum und zersprang in unzählige, kleine Splitter.

      »Oh ... das tut mir jetzt wirklich Leid, Chief!«

      »Das will ich ja wohl hoffen!«

      »Aber, wenn sie mir geholfen hätten, wäre das bestimmt nicht passiert«, versuchte Miranda sich zu rechtfertigen.

      »Geben sie mir jetzt die Schuld für dieses Desaster?«

      Konnte es etwas Schöneres für Chief Inspector Fazzoletti geben? Wer am frühen Morgen aus heiterem Himmel auf anderen Menschen herumhacken durfte und auch noch dafür bezahlt wurde, hatte seiner Meinung nach das ganz große Los gezogen.

      Er ging um den Tisch herum, aber nicht um Miranda zu helfen, sondern hob vorsichtig das von Scherben bedeckte Foto seines Onkels auf und schüttelte den Glasbruch darauf achtlos auf den Teppichboden.

      »Dieser Mann, Miranda, hat sein ganzes Leben lang dafür gesorgt, dass unbescholtenen Bürgern – wie ihnen – Tag für Tag zu ihrem Recht verholfen wurde. Und sie zerstören mit ihrer trampeligen Art dieses Andenken an viele Jahrzehnte britischer Polizeigeschichte?«

      Der Frau wurde übel. Ihr wurde immer übel, wenn der Chief Geschichten seiner sagenumwobenen Polizistenfamilie zum Besten gab. Erstens, weil sie vermutlich alle kannte, und zweitens, weil sie immer gleich endeten. Sie wäre ein dummes Ding und er das leuchtende Beispiel für Tapferkeit, Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Spürsinn und Ermittlungserfolg.

      »Mein Onkel begann seinen Dienst in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in unserer Kolonie Hongkong, um viele Jahre lang erfolgreich die britische Kultur in Ostasien aufrecht zu erhalten. Nach dem 2. Weltkrieg wurde er hier im Mutterland gebraucht und hat entscheidend mitgeholfen England zu dem zu machen, was es heute ist. Ich folgte seinem Beispiel 1979, habe ebenfalls den Ruf der Gerechtigkeit nicht überhört und das tu ich noch heute!« Fazzoletti holte Luft. »Und sie, frage ich, was machen Sie?«

      »Ich hol’ mal einen Staubsauger. Oder soll ich erst der Spurensicherung Bescheid geben?«

      »Holen sie schon das verdammte Ding, zum Henker!«

      Er nahm wieder Platz und sah sich Onkel Fuzzy genauer an. Die meisten Fazzolettis hatten seit vielen Generationen den Spitznamen Fuzzy getragen. Der Chief Inspector war da keine Ausnahme. Schon am ersten Tag an der Polizeischule wussten alle, dass er einfach nur Fuzzy war.

      Die Nachforschungen irgendeines Fazzolettis hatten ergeben, dass seine Familie erst vor ungefähr 400 Jahren nach England gekommen war. Die Wurzeln seiner Ahnen lagen irgendwo in Italien. Dort war der Winter mild und die Mafia allgegenwärtig. Hier war es genau umgekehrt. Aber mit der Mafia hatte er sowieso nichts am Hut – zu viel Arbeit für seinen Geschmack. Er hatte das unverschämte Glück, dasselbe Ressort übernehmen zu können wie sein Onkel: das Kommissariat für übernatürliche Phänomene.

      Und er hatte es genau wie sein Vorfahr mit Taugenichtsen zu tun, die anderen nur die Zeit stahlen und auch sonst nur Brei im Kopf hatten. Aber Fazzoletti war die Instanz, die diesen Menschen zeigte, wie die Realität wirklich war: hart und unbarmherzig.

      Miranda kam herein und saugte die kleinen Scherben auf, die sich geweigert hatten, aufgehoben zu werden. Das Geräusch schien Fazzoletti empfindlich zu stören. Als sie fertig war, fragte sie ihren Chef: »Sagen sie mal, hatte ihr Onkel eigentlich keine Kinder an die er die Tradition hätte weitergeben können?«

      »Für einsame Wölfe ist das Rudel nur Ballast, der durchgefüttert werden muss!« Dann musste Fazzoletti dreimal schrecklich niesen und rotze sich die Nase in ein gebrauchtes Taschentuch, das er zusammengeknüllt in seiner Hosentasche fand.

      Miranda nickte. Welche Frau hätte es auch mit solchen Männern ausgehalten.

      »Und sie brauchen sich bei mir da auch keine Hoffnungen zu machen, Miranda!«

      Sie antwortete nicht, weil ihr eine wirklich passende Antwort darauf sowieso erst morgen eingefallen wäre. Und Männer auf dem Weg durch ihr persönliches Universum soll man nicht vom Kurs abbringen.

      »Chief, sie müssen endlich auf die E-Mails von diesem Grafula antworten. Seit Montag werde ich mit Nachrichten von ihm bombardiert und er droht schon, sich an ihren Vorgesetzten zu wenden.«

      »Ups! Und da ist ihnen keine gescheite Ausrede eingefallen? Miranda, wofür machen sie eigentlich die ganzen Kreuzworträtsel?«, sagte Fazzoletti.

      »Sudoku. Ich mache Zahlenrätsel und mir ist egal wem ich morgens den Tee mache, Chief Inspector!«

      »Was schreibt denn dieser nervige Grafula?«

      »Sie haben ihre E-Mails also mal wieder nicht gelesen?«, fragte Miranda zurück.

      »Nur kurz überflogen«, log ihr Vorgesetzter.

      »Er schreibt, dass sich vermutlich eine Art Zeitreisender hier in England aufhält, der wiederholt Schätze von unwiederbringlichem