Stefan Högn

NESTOR


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hatten wir großes Glück und wurden noch nicht von einander getrennt.«

      »Wie alt seid ihr?«, fragte Lilly mit belegter Stimme.

      »Ich bin fünfzehn und mein Bruder ist neun Jahre alt«, sagte Judith und ihr Bruder sah Nestor und Lilly erwartungsvoll mit großen Augen an.

      »Na, dann ... wollen wir mal was Essen gehen!«, sagte Nigglepot und schlug den Weg Richtung Herberge ein.

      »Wie kannst du denn so einfach sagen: Dann wollen wir mal was Essen gehen?«, flüsterte Lilly entsetzt zu Nestor. »Was die da alle erzählt haben, ist doch fürchterlich! Da kannst du doch nicht einfach nur ans Essen denken!«

      »Lilly! Deine Anteilnahme ehrt dich. Dennoch, in dieser Zeit sind das zwar keine schönen, aber völlig normale Schicksale. Jeder kennt hier jemanden, dem so etwas passiert ist. Und vermutlich wird das alles noch viel schlimmer gewesen sein, als sie uns erzählt haben.« Er legte die Hände auf ihre Schultern und kniete sich zu ihr herunter, dann fuhr er flüsternd fort: »Zu deiner Zeit in Hongkong starben Menschen noch an den einfachsten Krankheiten. In unserer Heimatzeit in England gibt es Menschen, die obdachlos sind und keine Arbeit haben. Es gibt immer tausend schreiende Ungerechtigkeiten und du kannst nur Kleinigkeiten dagegen unternehmen. Damit musst du dich abfinden!«

      Nestor konnte sehen, wie sich innerlicher Widerstand in Lilly rührte, ihr aber keine passenden Lösungsvorschläge oder Argumente einfielen, vermutlich weil er Recht hatte.

      »Aber wenn man satt ist, sieht die Welt gleich ganz anders aus. Und deshalb gehen wir jetzt was essen. Basta!« Er ließ keinen weiteren Widerspruch in dieser Angelegenheit mehr zu.

      Die Chinesin blieb stehen und ließ sich etwas zurückfallen. Die Worte von Nestor taten ihre Wirkung. Sie atmete tief durch, schnappte sich den Hund und lief den anderen hinterher.

      »Wie heißt der Hund eigentlich?«, fragte sie in die Runde.

      »Der hat keinen Namen«, sagte Roxanna.

      »Aber jeder Hund hat doch einen Namen«, entgegnete Lilly.

      »Vielleicht, da wo ihr herkommt. Aber hier hat kein Hund einen Namen. Hier heißt ein Hund einfach Hund«, erläuterte Darian.

      »Ich werde ihm aber trotzdem einen Namen geben!«, Lilly war es völlig egal, dass man hier Hunden keinen Namen gab.

      »Und wie soll die Töle heißen?«, fragte Nestor Nigglepot belustigt nach.

      »Arf!«

      XIV

      Ahnen

      »Der Hund muss aber draussen bleiben!«, polterte Lakis beim Anblick von Arf, den Lilly unterm Arm in den Gastraum der Herberge trug.

      »Kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte die Chinesin genauso lautstark, denn sie hatte beschlossen, dass die Promenadenmischung ab sofort ihr Wachhund sein würde. »Der passt auf mich auf!« Sie setzte das Tier auf den Boden, und sofort kläffte Arf den Mann hinter der Theke an.

      »Ach ja, stimmt ja ... wir sind ja was Besonderes«, fiel es dem Wirt mit genervtem Blick wieder ein. »Da will ich doch gleich mal nach einem Leckerchen schauen.« Und er suchte nach irgendetwas, das man gut werfen konnte.

      »Ein alter Knochen würde reichen«, versuchte Nestor die Stimmung zwischen Lilly und Lakis abzukühlen.

      »Pah! Der Köter kostet extra!«, sagte der Herbergsvater und schaute erst dann auf die vier anderen, die gemeinsam mit den Zeitreisenden den Gastraum betreten hatten. »Und die vier hier auch. Sollen die auch eigene Zimmer bekommen, oder wäre es ,diesmal genehm das Gesindelager zu buchen?«

      »Gesindelager«, sagte Nestor.

      »Eigene Zimmer«, sagte Lilly.

      Nigglepot sah das Mädchen erstaunlich scharf an.

      »Gesindelager ...«, gab sie kleinlaut bei, obwohl sie es nicht mochte, dass andere unter freiem Himmel im Hof bei Pferden und Eseln schlafen sollten. Aber um nicht aufzufallen, musste sie ihrem Herrn Recht geben.

      »Wo habt ihr die denn her?«, fragte Lakis, als er sich die neuen Sklaven seiner Gäste genauer ansah. »Wart ihr etwa bei einer Haushaltsauflösung?«

      »Quatsch nicht, Lakis! Bring’ uns Essen und Getränke. Wir haben Hunger!« Nestor schien allmählich genervt von dieser Einkaufsaktion zu sein und eine weitere stand noch aus.

      Alle setzten sich an einen Tisch, drei zu jeder Seite und Arf in der Mitte – unter dem Tisch.

      »Wer von euch kann denn eigentlich rechnen?«, wollte Nigglepot wissen.

      »Schwierige Sachen oder mehr so das Übliche?«, hakte Darian nach.

      »Was man halt zum Einkaufen so an Rechenkünsten braucht«, erklärte Nestor.

      »Da kann ich helfen«, sagte Roxanna zögerlich. »Ich war bei meinen Herrschaften immer für die Einkäufe zuständig!«

      »Wunderbar!« Nestor spielte den großen Organisator und fragte dann: »Wer kennt sich mit Pferden und Eseln aus? Denn wir benötigen ein Pferd für mich und einen Eselskarren.«

      »Darum kann ich mich kümmern«, antwortete Darian, der Perser. »Zuhause war ich für die Pferde verantwortlich, ich verstehe viel davon.«

      »Willst du doch über Land reisen?«, fragte Lilly verblüfft.

      »Nein, aber ich möchte in Syrakus nicht wie ein hilfloser Haufen Touristen mit euch ankommen«, erläuterte Nestor. »Judith und Aaron, ihr erkundigt euch nach einer Schifffahrtsgelegenheit nach Syrakus. Wir wollen möglichst bald reisen und werden außer einem Pferd, einem Eselskarren und uns nur wenig Gepäck haben.«

      »Und was soll ich machen?«, Lilly hatte beinahe das Gefühl, er hätte sie vergessen.

      »Ach ja, du Lilly ... du ... gewöhnst dieser Töle das Kläffen ab und ansonsten siehst du zu, dass deine neuen Kollegen alles richtig machen«, war seine Antwort. »So, hat noch jemand irgendwelche Fragen?«

      »Ja. Was machst du, Herr?«, wollte die Chinesin wissen.

      »Ich? Nichts. Ich werde doch nicht arbeiten, wo ich euch habe«, war die logische Antwort von Nestor Nigglepot. Dann nahm er sich ein Fladenbrot und einen gebratenen Fisch, goss sich Wasser in seinen Becher und sagte in die Runde: »Greift ruhig zu!«

      Lakis hatte ein reichhaltiges Mahl für sechs Personen aufgetischt und Arf – unter Protest – einen alten Knochen unter den Tisch geworfen. Damit war der Hund bestens beschäftigt und vergaß das Kläffen.

      »Was wollt ihr denn in Syrakus, Herr?«, interessierte sich Judith für das Reiseziel.

      »Wir wollen einen Freund besuchen«, antwortete Lilly, weil Nestor den Mund voll hatte.

      »Und wenn ihr das gemacht habt?«, fragte nun Aaron.

      »Dann reisen wir wieder zurück«, sagt das chinesische Mädchen.

      »Wo ist denn dieses Zurück? Hier in Catania?«

      »Nein, nein ...«, Lilly musste kurz überlegen und sagte dann: »Auf Korfu. Wir kommen von Korfu.«

      »Gibt es da keine Sklaven zu kaufen?«, hakte Aaron nach.

      »Doch schon ...«, es hatte etwas von einem Verhör und Lilly wunderte sich, dass Nestor nicht das Wort ergriff, sondern sie reden ließ. Scheinbar wollte er sehen, wie gut sie improvisieren konnte. »Aber, die Auswahl ist nicht so groß und die Qualität lässt doch zu wünschen übrig.«

      Aaron sah sie misstrauisch an und sagte dann: »Sind auf Korfu alle Mädchen gelb?«

      »Nee, nur ich! Und ich bin auch gar nicht von Korfu, sondern aus China!«

      »China? Ist das auf dem Festland oder auch eine Insel?« Der Junge ließ nicht locker.

      »Auf dem Festland«, sagte sie und fühlte sich unwohl.

      »Davon habe ich aber noch