Stefan Högn

NESTOR


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Worte, »... das ja auch gar nicht am Mittelmeer liegt, sondern am östlichen Meer, sogar noch hinter Ägypten!«

      Sie erntete anerkennende Blicke. Das östliche Meer war weit weg, das wussten sie alle und der Perser ergriff das Wort.

      »Aber vom Fluss Indus kommst du nicht. Selbst dort sehen die Menschen nicht sehr viel anders aus als ich.«

      »Nein, vom Indus komme ich auch nicht.« Sie fühlte sich immer noch unwohl.

      »Oder kommst du sogar von hinter dem großen Gebirge?«

      »Stimmt! Richtig geraten!« Ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Ich komme von hinter dem großen Gebirge.« Das war noch nichtmal gelogen. Zwischen Syrakus und China lagen Indien, mit dem Indus und der Himalaya, das große Gebirge.

      »Und wie bist du hier hergekommen?«, wollte nun wieder Judith wissen. Und Lilly fing an sich mit ihrer gespielten Figur anzufreunden.

      »Ach, das Übliche. Das Schiff mit dem meine Eltern und ich unterwegs waren, wurde von Piraten aufgegriffen und ich wurde in Ägypten auf dem Sklavenmarkt verkauft. Ganz einfach.«

      »Wird denn in China auch Griechisch gesprochen?«

      »Um Gottes Willen, nein! Dort wird natürlich Chinesisch gesprochen.«

      »Welchen Gott meinst du?«, hakte Aaron wieder nach.

      »Ach, such dir einen aus!« Diese Frage traf Lilly völlig unvorbereitet.

      »Ich darf mir keinen aussuchen, aber du vielleicht. Die Griechen haben ja jede Menge Götter ... und die Chinesen?«

      »Hui ... eigentlich glaube ich an gar keinen Gott.«

      Alle starrten sie fassungslos an und Nestor kicherte leise, aber schadenfroh.

      »Das geht ja gar nicht! Man kann nicht nicht an einen Gott glauben. Los such du dir einen aus«, beharrte Darian.

      »Nein, denn ich will an keinen Gott glauben! Ich habe das nicht gelernt und bisher auch nicht vermisst.«

      »Herr! Ihr müsst ihr sagen, dass sie an einen Gott glauben muss, meinetwegen auch an den der Hebräer. Aber ohne geht’s doch nun wirklich nicht. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht an einen Gott glauben wollte.« Roxanna war sichtlich erschüttert.

      »Darum kümmere ich mich nicht«, antwortete Nestor, zuckte gelassen mit den Schultern und aß genüsslich weiter. Lilly sah ihn ziemlich böse an.

      »Es ist doch meine Sache, was ich glaube und was nicht!«

      »Nein, das ist es nicht unbedingt! Wenn wir gemeinsam auf Reisen gehen, und du keinen Gott um Hilfe und Unterstützung anrufen kannst, dann steht unser Unternehmen unter einem schlechten Stern. Das bringt Unglück und wenn unser Schiff untergeht oder wir überfallen werden, bist du schuld«, versuchte der Perser zu erklären.

      Für Lilly war es zum Verzweifeln, denn in Nestors Bibliothek hatte sie natürlich über viele Religionen gelesen und festgestellt, dass der Glaube an einen Gott für sie nicht das Richtige war. Sie freute sich für andere, denen ihr Götterglaube Kraft und Hoffnung gab, aber sie war Kung-Fu-Kämpferin.

      Kung-Fu bezieht seine Kraft aus der Konzentration auf das Wesentliche. Kung-Fu ist Buddhismus und diese Religion kommt ganz gut auch ohne allmächtige Götter aus. Aber dann kam ihr die rettende Lösung in den Sinn.

      »Dort wo ich her komme, dürfen die Menschen glauben, was sie wollen. Die einen glauben an einen Gott und andere nicht. Ich glaube zwar nicht an einen Gott, aber ich verehre meine Ahnen, bitte sie um Rat, Hilfe und Kraft.«

      »Puh!«, schnaufte Darian durch.

      »Und ich hatte schon Sorge, du hättest auch etwas von diesem unmöglichen Sokrates gehört und wärest seine Anhängerin«, entspannte sich auch Roxanna.

      »Wer ist denn jetzt dieser Sokrates?«, fragte Aaron.

      »Ein Wichtigtuer, der ganz Athen mit seinen Fragen genervt hat und am Ende völlig zurecht hingerichtet wurde, weil er der Jugend nur Flausen in den Kopf gesetzt hat und sie vom rechten Glauben abbringen wollte«, war Roxannas Antwort.

      »Und was soll der rechte Glaube deiner Meinung nach sein?«, fragte Darian.

      »Das die Götter Zeus, Athene, Poseidon und alle anderen das Schicksal der Menschen bestimmen. Mich haben sie zu einer Sklavin gemacht und unseren Herrn Nestor, zum Beispiel, zu einem Gebieter. Habe ich recht, Herr?«

      »Kann sein ... ich glaube nur, dass die Götter an mich glauben!«, antwortete Nestor gespielt gelangweilt, aber echt eingebildet.

      »Gewiss, Herr! Da hört ihr es!« Roxanna war zwar auf dem Holzweg, glaubte aber was sie hören wollte.

      »Es gibt aber nur einen Gott!«, mischte sich Judith nun auch noch ein.

      »Ganz genau ... Mithra – der Sonnengott! Er ist groß und mächtig, er steht für das Recht und beschützt diejenigen, die gerecht sind«, sagte Darian.

      »Falsch! Das tut Jahwe und das ist überhaupt der einzige Gott. Er beschützt diejenigen die Rechtes tun und bestraft alle, die gegen sein Wort verstoßen«, konterte Judith.

      »Zeus und die Seinen haben immerhin die Giganten besiegt und sind so was von mächtig, da fällt eurem Jahwe und deinem Mithras aber nichts mehr zu ein«, widersprach nun Roxanna.

      Es entstand ein ewig hin und her wechselndes Streitgespräch unter den Sklaven und jeder beharrte auf seinem Standpunkt. Richtig böse wurde keiner, nur einig wurden sie sich nicht und als Lilly genug davon hatte, sprach sie einfach dazwischen.

      »Meine Großeltern haben meine Eltern erzogen und satt gemacht. Meine Eltern haben mich erzogen und satt gemacht ... so lange sie konnten. Darum verehre ich meine Großeltern und meine Eltern«, sagte Lilly leise.

      Und alle anderen waren still.

      XV

      Großalarm

      Grafula hatte sich vor dem Eintreten von Miss Simmons gerade noch zurück verwandeln und wieder anziehen können. Neben seinen kläglichen Flugkünsten war das mit der Fledermausnummer verbundene Nacktsein die zweite Peinlichkeit, die ihm diese besondere Fähigkeit ausgesprochen verleidete.

      Miranda zerrte an dem schlecht gebundenen Knoten von Chief Inspector Fazzolettis Krawatte, der immer noch bewusstlos in seinem Sessel hing und öffnete den obersten Hemdknopf.

      Philander war sich für derlei Maßnahmen zu schade. Erste Hilfe war nicht sein Bereich, schon gar nicht für einen zweitklassigen Polizisten. Aber er befand sich in England und war gut beraten den zuständigen Beamten, zumindest in der Anfangsphase eines solch brisanten Falles, einzubinden.

      Das die Sekretärin, den ohnmächtig in seinem Sessel sitzenden Chief Inspector jetzt aufbinden musste, war nun wirklich zu lächerlich.

      »Atmet er noch?«, fragte der Superintendent, ohne zu vertuschen, dass ihm beide möglichen Antworten gleich recht waren.

      »Ich denke schon …« Miranda war sich gar nicht so sicher und ging deshalb mit ihrem Ohr verblüffend nah an Fazzolettis Mund und Nase heran.

      »Haaatschi!!!«, brüllte es aus eben dieser, in und eben diesem Moment.

      »Er atmet noch«, stellte Philander fest und schaute Grafula dabei gleichgültig an.

      Miss Simmons fasste an ihr nun taubes Ohr, taumelte Richtung Bürotür und brabbelte irgendetwas von ekliger Sauerei.

      Der Superintendent stemmte seine Hände breit gespreizt auf Fazzolettis Schreibtisch und beugte sich weit zu dessen Gesicht hinunter und flüsterte: »Mein lieber Mann! Sie wissen, wie man mit Frauen umgeht. Alle Achtung!« Er machte eine kurze Pause. Dann flüsterte er noch leiser weiter: »Und jetzt werden sie mir zeigen, wie sie mit diesem Fall umgehen … und wenn mir nicht gefällt, was ich sehe, gehen sie wieder Streife!«

      Philander richtete sich auf und sprach in normaler Lautstärke weiter: »Trommeln sie Ihre Truppe