Klaus Bock

Morituri


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etwa“, bestätigte Tante Greten und goss sich einen ordentlichen Likör ein: „Prost, mein Junge!“, sagte sie und nuckelte das Glas langsam, aber ohne es zwischendurch abzusetzen, leer. „Lecker!“, sagte sie abschließend und stellte das Glas weg. „Als ich jung war, haben wir die Gläser noch ausgeschleckt. Gab ja nichts in der schlechten Zeit... Aber in meinem Alter gehört sich das ja nicht mehr, die Zunge so rauszustecken, meine ich! Oder“, fragte sie, „macht es dir nichts aus?“

      Als Udo den Kopf schüttelte, nahm sie ihr Glas und leckte es aus, stellte sie es zufrieden wieder auf den Tisch. Dabei sah sie wie ein junges Mädchen aus, das einen frechen Streich ausgeheckt hatte. „So schmeckt es doppelt so gut!“, lächelte sie Udo an. „Schade, dass die schönen Zeiten so schnell vergehen... vergangen sind...“

      „Du bist wann geboren?“, fragte Udo, „ich meine, ich will nicht unhöflich sein bei einer Dame...“

      „Ach was“, winkte Tante Greten ab, „1920!“

      „Dann warst du bei Kriegsausbruch 19 und 26 bei Kriegsende...“

      „Ja, die ganze Jugend war vom Krieg versaut und die Jahre davor waren ja auch schon kein Zuckerschlecken.“

      Udo deutete auf das Bild eines sehr jungen und sehr gut aussehenden Soldaten in schwarzer Uniform, das auf der Anrichte stand und fragte: „Wenn ich fragen darf, Tante Greten, wer ist das?“

      Sie schaute auf das Bild, zuckte mit den Schultern, atmete tief durch und sagte: „Das ist der Hans, mein Mann...“

      „Du warst verheiratet? Das wusste ich ja gar nicht.“

      „Ja, naja, irgendwie schon...“

      Udo schaute sie fragend an, sagte aber nichts. Er wartete, dass sie weitersprach – wenn sie es wollte.

      „Er war der schönste junge Mann in der Straße, ach was, in der Stadt! Ich war damals auch sehr hübsch, musst du wissen... Wir gehörten zusammen... wir waren sehr jung. Er war gute zwanzig, ich war achtzehn als wir uns... verliebten.“

      Sie schaute jetzt ins Nichts, holte wohl die Erinnerungen hervor – oder drängte einige zurück. Sie stand auf, nahm das Bild in beide Hände, schaute es lange an, küsste es und hielt es schließlich gegen den Busen gedrückt.

      „Er hat sich 1940 freiwillig gemeldet. Zur SS, genauer zur Waffen-SS. Du weißt was das ist oder war? Sie haben ihn mit Kusshand genommen, er war so groß, so blond, so schön – und intelligent war er auch! Er ist nicht mehr zurückgekommen. Er wird wohl gefallen sein.“

      Sie hatte Tränen in den Augen. „Ich habe ihn geliebt! Nie wieder habe ich so lieben können.“ Sie schnäuzte sich und tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Entschuldige bitte!“, sagte sie, „ich habe so lange nicht mehr geweint. Aber es kommt plötzlich alles so hoch... als ob es gestern wäre.“

      Sie saß am Frühstückstisch, das Bild hatte sie jetzt vor sich auf den Tisch gestellt. Sie blickte durch die Tränen aus dem Fenster, sah in die Ferne, in eine andere Zeit... Dann begann sie zu erzählen.

      „Es war eine sogenannte Ferntrauung. So etwas gab es damals. Man konnte sogar einen gefallenen Soldaten noch heiraten, denk nur mal! Aber meiner hat da noch gelebt, da war es eine Ferntrauung. Ich war auf dem Standesamt – mit weißem Kleid! - und zwei Trauzeugen. Im Standesamt lag auf dem Stuhl, auf dem Hans hätte sitzen sollen, ein Stahlhelm... und bei ihm war das ähnlich, nur dass da natürlich kein Standesbeamter war, sondern seine Vorgesetzten. Ja und dann waren wir verheiratet und haben uns trotzdem nie wiedergesehen! Und eine Hochzeitsnacht hat es also auch nie gegeben für uns. Ich war eine verheiratete Frau geworden und eine Jungfrau geblieben! Udo, das war und ist ein Scheißleben!“, entfuhr es ihr plötzlich – so einen Ausdruck hatte Udo von ihr noch nie gehört - und fuhr leise, fast flüsternd fort: „Ich weiß ja nicht einmal, ob er wirklich tot ist. Ich glaube es aber, ich fühle es... Und er hat sich dann irgendwann nicht mehr gemeldet. Erst kamen die Briefe ganz regelmäßig und dann plötzlich nicht mehr. Da habe ich es schon gewusst. Aber gehofft, gehofft habe ich immer, tue es noch, glaube ich. Als damals die Gefangentransporte aus Russland kamen, die letzten, weißt Du, da habe ich immer auf dem Bahnhof gestanden und nach ihm gesucht. So viele sind da noch gekommen, aber er? Er ist nie heimgekommen!“

      Sie machte wieder eine lange Pause. Seufzte. Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

      „Und dann, viele, viele Jahre später, das muss schon in den Sechzigern gewesen sein, kam plötzlich eine Frau und fragte mich, ob ich die Grete sei, und wenn ja, dann habe sie einen Brief für mich, den ihr ihre verstorbene Mutter gegeben hätte, der sie versprechen musste, dass sie unbedingt nach mir suchen sollte, denn da war ein junger Soldat auf dem Treck über das Haff gewesen... Du weißt, wovon ich rede, Udo? Du hast von den Fluchttrecks gehört, die im Winter 1945 vor den anstürmenden Russen der Roten Armee über das zugefrorene Kurische Haff zogen? Die letzten kamen im Februar.“

      Udo nickte.

      „Und da sei ein Soldat gewesen, ein ganz junger, der den Bruder der jungen Frau unter Einsatz seines Lebens gerettet hätte, denn der hätte als Siebzehnjähriger aus dem Treck herausgeholt werden sollen, um noch im Volkssturm zu kämpfen. Dort wäre der vermutlich nur Kanonenfutter für die Rotarmisten gewesen. Der junge SS-Mann habe ihn aber laufen lassen und sogar noch in einem Pferdewagen versteckt, weil er das alles sattgehabt hätte, den unsinnigen Krieg und die unsinnigen Befehle. Und dieser SS-Mann habe ihr, also der Mutter von der jungen Frau, einen Brief für mich mitgegeben. Feldpost gab es da ja längst nicht mehr, und den Brief wollte sie mir jetzt, nach fast 25 Jahren Suche, geben, um das Versprechen ihrer Mutter einzulösen. Und dann hat sie mir den Brief gegeben. Der war schon ganz zerknüllt und das war ja auch kein gutes Papier damals im Krieg und dann noch an der Front. Er war aber noch zu lesen, schwierig... weil da waren Flecken und die Tinte war verschmiert. Aber er war wirklich von Hans und er war für mich. Und er hat geschrieben, dass er jetzt wohl nur noch Stunden zu leben haben würde, aber er könnte nicht einfach fliehen und die Zivilisten ihrem Schicksal überlassen. Er habe seine Ehre und den Eid auf den Führer, und das könne er nicht aufs Spiel setzen, nicht als SS-Mann, hat er geschrieben, und dass er mich immer geliebt hat und immer lieben werde, dass er nie an eine andere auch nur gedacht hatte, und er habe zu viel Schlimmes erlebt in Russland und wohl auch selber gemacht oder machen müssen, denke ich, ist ja letztlich auch egal, man hat ja später viel gehört, was die SS im Osten gemacht hat. Er, mein Hans, werde jetzt nicht weglaufen, hat er geschrieben, damit könne er nicht leben und deshalb würde er sterben. Der Russe sei nur noch ein paar Kilometer entfernt. Er könne sie schon hören! Die ersten russischen Panzer müssten jeden Moment auftauchen. Und dann hat er noch geschrieben, ich solle mich frei fühlen, ich sei ja noch so jung...“

      Sie war eine ganze Zeit still, schaute nur aus dem Fenster und dann sagte sie: „In dem Brief hat er sich von mir verabschiedet, weil er noch an dem Tage sterben würde, das wusste er! Das konnte ich klar erkennen und das war sein letztes Lebenszeichen.“

      „Mein Gott, Tante Greten, was für eine Geschichte, was für ein Schicksal.“

      „Ach, mein Junge, da hat es ja Tausende von gegeben. Ich war beileibe nicht die einzige, die so etwas erlebt hat. Da kann dir jede Kriegerwitwe eine, ihre Geschichte erzählen... Eine schlimmer als die andere!

      Und alle haben wir es ausgehalten, aushalten müssen. Aber sei mir nicht böse, bitte, ich möchte jetzt alleine sein... Trink Deinen Kaffee aber ruhig noch aus!“

      Udo nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse (Tante Greten hatte den Tisch mit den „guten“ Sammeltassen aus der Anrichte gedeckt, die sie ansonsten nur an Feiertagen verwendete), stand dann auf und verabschiedete sich von Tante Greten – er nahm sie in den Arm und sie war wie eine Feder, so leicht. Er spürte sie weinen und hielt sie deshalb noch eine Weile fest. Sie machte sich vorsichtig los von ihm und lächelte mit verweinten Augen zu ihm hoch: „Danke, Udo“, sagte sie.

      „Wofür?“, fragte Udo, „das war doch ein Klacks mit dem Wasserhahn!“

      „Nein, dafür dass und wie du mir zugehört hast – das hat mir richtig gutgetan. Und dass du nicht abfällig über meinen Hans gesprochen hast, weil er