Säuseln der Klimaanlage, gespannte Stille.
Auf einer Bahnstrecke, die zu beiden Seiten von Mais und Raps Pflanzungen gesäumt wurde, saßen jetzt alle Passagiere in diesem Zug fest. Ohne eine Information zu diesem unfreiwilligen Halt, blickten die Fahrgäste zumeist verloren aus den Fenstern, oder wechselten ein paar Worte mit anderen Passagieren. Nach wenigen Minuten machte sich, unter den verschiedenen Fahrgästen, doch ein stärkeres Unbehagen breit. Denn das Gemurmel der Passagiere wurde deutlicher und übertönte bald sogar das Säuseln der notleidenden Technik. Es ist in solchen Fällen nichts ungewöhnliches, denn eine große Zahl der Fahrgäste fürchteten zu Recht um ihre Anschlussverbindung! Einige Reisende erhoben sich nun ungeduldig von ihren Plätzen und spähten verloren nach dem Bahnpersonal umher. Andere schauten weiter verstört aus dem Fenster und suchten zu ihrer Orientierung in der Gegend nach vertrauten Anhaltspunkt.
Aus dem vorderen Abteil bahnte sich der Schaffner mühsam seinen Weg, durch den langen Gang, an den Sitzreihen vorbei. Immer wieder wurde er dabei von überraschten Fahrgästen aufgehalten, die ihn mit allerlei Sorgen und Bedenken überschütteten. In sich ruhend erstattete der Bahnangestellte pflichtgetreu und geduldig einen kurzen Bericht zur aktuellen Lage und dem genauen Grund des unvorhergesehen Halts. Nach ersten Erkenntnissen gab es ein technisches Probleme, welches zu der unplanmäßigen Fahrtunterbrechung geführt hatte. Doch in Kürze werde die Fahrt wie gewohnt fortgesetzt, versicherte der Bahnangestellte immer wieder dem einen oder anderen verunsicherten Pendler. Diese ersten vagen Information des freundlichen Zugbegleiters brachten sodann ein wenig Ruhe in das Abteil und unter die aufgeregten Fahrgäste.
„Haben sie eigentlich Familie“, fragte die Unbekannte, als sei in den letzten zehn Minuten nichts außergewöhnliches passiert.
„Nur meine Eltern“, antwortete der Autor knapp. Herr K. schaute ihr dabei in die Augen und trieb bei leichter Strömung in dem erfrischenden Blau dahin. Gerne hätte er die Aufzählung weiterer Personen, wichtiger Angehörige, oder engerer Familienmitglieder fortgesetzt. Doch er schwieg, denn sein Kreis von engen Verwandten und Familienangehörigen war in den letzten Jahren erheblich geschrumpft. Und kein erfreulicher Anlass, noch ein magischer Umstand hatte ihn größer werden lassen.
„Geschwister“, schob sie neugierig mit einem kecken Blick nach, während der Zug sich mit einem aufdringlichen Brummen langsam wieder in Bewegung setzte. Herr K. schüttelte den Kopf und fügte mit bitterer Mine hinzu, dass er geschieden sei und keine Kinder habe. Aber bevor er über ihren Familienstand umfangreiche Erkundigungen einholen konnte, huschte der Schaffner mit froher Mine durch den Gang. Dabei informierte dieser wahrheitsgemäß, dass der Zug in Kürze die maximale Reisegeschwindigkeit von siebzig Stundenkilometer erreicht haben werde und nicht schneller fahren wird. Die Ankunftszeiten verschieben sich daher um zirka eineinhalb Stunden.
Ein verhaltenes Raunen waberte durch das Abteil. Zahlreiche Wortmeldungen über fehlende Anschlussverbindungen wurden von dem perfekt geschulten Schaffner geschickt zerstreut. Mit fester Stimme versicherte er den betroffenen Fahrgästen einen reibungslosen Weitertransport am Zielbahnhof.
Der Zug trieb mit erheblich eingeschränkten Kräften zum Zielort voran. Trotz der zu erwartenden Verspätung und den sich daraus ergebenden Unannehmlichkeiten schien es so, als seien die meisten Passagiere froh, dass es trotz eines technischen Defektes, mit gefühlter Schrittgeschwindigkeit voran geht – einschließlich dieser wundervollen Unbekannten und des nun redselig gewordenen Autors. Dieses unerwartete technische Malheur setzte eine Menge an ungeahnten Fähigkeiten in dem schüchternen Mann frei und ermöglichte dadurch eine angenehme und flüssige Unterhaltung. Die kurze Phase von Traurigkeit, die seine Gesprächspartnerin kurz vorher offenbarte, gab dem Autor einen enormen Vertrauensschub. Ihm war plötzlich so, als würde er diese Frau schon ewig lange kennen. Sie hatte seine Ängste, jedenfalls für kurze Zeit vertreiben können. Zunächst blieben diese Wortwechsel durch schmeichelhafte Nettigkeiten und viel belangloses Gerede geprägt. Es lag den beiden sehr an einer flüssigen Unterhaltung, welche die drohende Langeweile von ihnen fernhalten sollte.
„Was machen sie beruflich“?
Obwohl Herr K. diese Frage schon früher erwartet hatte und sie mit Leichtigkeit beantworten konnte, hielt er dennoch einen ausgiebigen Atemzug lang inne.
„Ich schreibe“. Und da diese Antwort wie eine Selbstverständlichkeit geklungen hatte, fügte er noch ergänzend „Geschichten, Artikel und Bücher“, hinzu.
„Sie sind ein Schriftsteller“?!
Bei der Gelegenheit schaute sie ihm mit feurigen, erwartungsvollen Augen ins Gesicht. Es war anregend, das gesteigerte Temperament gemeinsam mit ihrer verstärkten Körperspannung zu beobachten. Bei dem wohlvertrauten Begriff “Schriftsteller“, wurde in ihr rasch eine kindliche Neugier wach – die bei vielen Menschen häufig ausgelöst wird. Hierbei kommt, in den meisten Vorstellungen, leider die Realität gegenüber der Romantik oft zu kurz. So schüttelte der schüchterne Herr denn auch seinen Kopf und dämpfte die Erwartung damit etwas.
„Ich bin ein schlichter Autor“. Dieser Einwand schien ihr Interesse an seiner Tätigkeit jedoch kaum zu trüben. Und so folgte Welle auf Welle mit verschiedensten Fragen, welche der schüchterne Schreiber daraufhin bereitwillig und mit großer Genugtuung beantwortete. Es machte ihm keine Mühe, sondern große Freude. Seit Jahren hatte er zum ersten Mal wieder die Möglichkeit, einer fremden Person, über seine wundervolle und abwechslungsreiche Arbeit zu berichten.
Alsbald entwickelte sich zwischen den beiden eine angeregte, fast schon vertrauliche Unterhaltung. Wobei diese überaus wortgewandte Dame es glänzend verstand, mit gezielten Fragen Herr K. munter zum ständigen antworten zu zwingen. Endlich bekam er nun die Gelegenheit, sich in der Kunst der flüssigen Unterhaltung zu üben. Vor allem aber half es, von seiner unbeholfenen Art abzulenken und den wortkargen und unhöflichen Mann darzustellen. Er war jetzt in seinem Element und vergaß alles andere darüber vollkommen. So zum Beispiel, dass die schöne Fremde die Kunst des Redens so trefflich beherrschte, ohne etwas wirklich wichtiges über sich selber gesagt zu haben. Aber mit ihren ständigen Fragen zu seinen schriftstellerischen Arbeiten erfuhr sie alles, was sie über seine Person wissen wollte.
Aber es sei angemerkt, vor allem ihre warme und herzliche Art machte es dem Befragten wesentlich leichter sich mitzuteilen. Sie wirkte an jedem gesprochen Wort interessiert und bei keinem Detail jemals gelangweilt. Ihre Ruhe und Geduld gab dem Sprecher genug Zeit sich erschöpfend mitzuteilen. Kurz gesagt, sie war eine unheimlich angenehme Zugbegleitung – und zudem gefällig anzuschauen. Trotz der mäßigen Geschwindigkeit dieses modernen Reisezugs, folgte schon bald darauf der erste planmäßige Aufenthalt an einer Bahnstation.
Der Zug rollte behäbig an den Haltepunkt und blieb dann einfach stehen.
Menschen eilten hernach aus allen Richtungen des Bahnhofs heran und drängelten sich an den Abteilfenstern des Zuges vorbei. Rollkoffer wurden über den Bahnsteig gezogen. Die kleinen Plastikrollen krächzten dabei über den aufgerauten Betonboden und waren schon von weitem nicht zu überhören. Eine ungemütliche Atmosphäre breitete sich überall aus. Wie aus dem Nichts entwickelte sich, innerhalb und außerhalb des Zuges ein hektisches Treiben. Einige Reisende zupften ihre Gepäckstücke zurecht und verließen zügig den Wagon. Neue Fahrgäste stiegen einfach hinzu. Hierzu wallte immer wieder unverständliches Stimmengewirr auf und dumpfe Geräusche von verstautem Gepäck waberten durch das enge Abteil. Flüche wurden ausgestoßen und zwischen polternden Gepäckstücken verabschiedeten sich einige Fahrgäste von ihrer Begleitung. Das ungleiche Pärchen ließ sich nicht von diesem Wirrwarr um sie herum irritieren und blieb weiterhin im angeregten Gespräch vertieft.
Mit jedem gesprochenen Wort verging die Zeit sehr angenehm und das Verhältnis ,zwischen diesen sehr unterschiedlichen Charakteren, wurde immer vertrauter. Immer wieder bekam der verschlossene Mann den Eindruck, es sei seine Partnerin und diese aufreizende Dame wäre seit einer Ewigkeit mit ihm zusammen. Etwas geheimnisvolles in ihrer Art ließ ihn glauben, es sei niemals anders gewesen. Ob es ihr sanftes Lächeln war, dass eine familiäre herzliche Bindung vermuten ließ, oder ihre warme Stimme, die echtes Interesse an dem anderen signalisierte. Doch bei aller gefühlten Vertrautheit fehlte der Name – wenigstens der Vorname!
Bisher