Laura Herges

Wer ist Clara?


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offenstehenden Tür zu unserer Rechten.

      „Ich hab jemanden mitgebracht“, sagt er, immer noch in diesem komischen Dialekt, und tritt zur Seite, um den Blick auf mich freizugeben. Ich blicke in ein Wohnzimmer, in welchem eine Frau und ein Mann auf einer ausladenden Couch sitzen und in gedimmtem Licht auf einen Fernseher starren.

      „Hallo“, sage ich leise.

      Die beiden blicken fragend zu Lukas.

      „Ich hab sie im Wald aufgegabelt. Sie war allein“, höre ich aus dem folgenden Dialekt-Wortschwall heraus.

      Die Frau, die wahrscheinlich Lukas‘ Mutter ist, fragt nach, wie er das meint und er entgegnet, dass ich mich an nichts erinnern kann.

      „Und sie kann kein Pfälzisch“, meint er dann mit einem Blick auf mich.

      Pfälzisch. Das ist also diese komische Sprache, die in meinen Ohren so fremd klingt.

      Die Frau steht auf und kommt zu uns. Ihr Mann blickt weiterhin nur neugierig von der Couch aus zu uns herüber.

      „Ist das wahr? Du kannst dich an nichts erinnern?“ Sie bemüht sich, hochdeutsch zu sprechen, doch ich höre immer noch einen kleinen pfälzischen Einschlag. Aber zumindest verstehe ich sie jetzt viel besser als vorher.

      „Ich glaube, nur an meinen Vornamen“, erwidere ich zögernd, „Clara.“

      „Clara…“, murmelt die Frau mit einem nachdenklichen Blick auf mein Gesicht, „Du musst auf jeden Fall so bald wie möglich zu einem Arzt, der sich das ansieht.“

      „Sollen wir sie in die Notaufnahme fahren?“, fragt Lukas neben mir.

      Die Frau wendet sich wieder mir zu: „Hast du irgendwelche Schmerzen oder ist dir schlecht?“

      Ich schüttele den Kopf.

      „Dann warten wir bis morgen, wenn das für dich okay ist“, sagt sie.

      Oh ja, das ist mir sogar sehr recht, denn ich bin schrecklich erschöpft. Es fällt mir erst jetzt so richtig auf, aber ich glaube, wenn ich mich jetzt hier auf den Boden legen würde, würde ich direkt einschlafen.

      „Wir haben ein Gästezimmer, wenn du willst, kannst du dort die Nacht verbringen“, sagt sie. Das klingt wie Musik in meinen Ohren.

      „Danke, das ist sehr nett“, erwidere ich.

      „Und wenn du willst, kannst du dich auch abduschen.“ Ihr sind also meine schmutzigen Kleider aufgefallen. „Von was bist du so… dreckig?“, fragt sie verwirrt.

      Ich zucke nur mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

      „Gib ihr ein paar Kleider von Johanna“, sagt sie an Lukas gewandt, und dann wieder zu mir: „Das Bad ist oben, die erste Tür rechts. Deine Kleider kannst du vor die Waschmaschine legen, die wasche ich mit, wenn du magst.“

      „Danke“, erwidere ich erneut, „Das ist wirklich sehr, sehr nett von Ihnen.“

      „Sag ruhig ‚du‘ zu mir“, entgegnet sie lächelnd. Ich bin Eva und das ist mein Mann Paul.“ Sie deutet auf den Mann, der mir vom Sofa aus zunickt.

      Der ist ja wirklich sehr gesprächig, denke ich.

      Ich drehe mich um und will gerade zur Treppe laufen, als sich plötzlich erneut die Tür öffnet. Wie auf ein Kommando hin stürmt Luchsi los und springt an der Person hoch, die jetzt eintritt. Es ist wieder ein Junge, aber er ist etwas größer und scheint auch älter zu sein als Lukas.

      „Hey Luchsi!“, sagt der Junge lachend und streichelt dem Hund durchs Fell, „Ja fein!“

      „Jakob“, sagt Eva und er blickt auf. Sofort fällt sein Blick auf mich. Ich muss schlucken und würde am liebsten zu Boden blicken, aber etwas hält mich davon ab. Ich frage mich, ob es die Neugier in seinem Blick ist oder die Überraschung, doch etwas hindert mich daran, meinen Blick abzuwenden.

      Eva spricht pfälzisch mit ihm und ich verstehe nur ein paar Wörter, aber sie erzählt ihm im Großen und Ganzen dasselbe, was wir eben besprochen haben. Und Lukas wirft am Ende noch ein, dass ich kein Pfälzisch spreche.

      Erstaunt schaut Jakob wieder zu mir. „Du weißt gar nichts mehr?“, fragt er, doch bei ihm klingt es nicht so vollkommen fassungslos wie bei Lukas und Eva, sondern eher… besorgt?

      Ich schüttele den Kopf. „Nein, nichts.“

      „Das tut mir leid“, sagt er leise und ich spüre, wie die Tränen erneut versuchen, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen.

      „Gehst du dann Johanna abholen?“, fragt Eva, oder zumindest glaube ich, dass sie das gefragt hat, denn es fällt mir immer noch genauso schwer wie vorhin, den Dialekt zu verstehen. Er nickt und geht wieder zur Haustür. Ich blicke ihm kurz nach und verabschiede mich dann nach oben, wo ich wie empfohlen duschen will.

      Ich finde das Bad sofort, es befindet sich direkt neben der Treppe. Als ich das Licht einschalte, erstarre ich für einen Moment, denn aus dem Spiegel blickt mir ein fremdes Gesicht entgegen.

      Das bin also ich? Prüfend lehne ich mich über dem Waschbecken ein Stück nach vorn. Ja, das Gesicht gehört tatsächlich mir. Graublaue Augen starren mir aus einem blassen Gesicht entgegen, eine leicht nach oben geneigte Stupsnase über relativ vollen Lippen. Ich habe dunkle Ringe unter den Augen; keine Ahnung, wann ich das letzte Mal geschlafen habe… Mein Haar ist hellbraun und ich trage es in einem Pferdeschwanz. Ich löse das Haargummi und mein Haar fällt mir in langen Wellen über die Schultern. Ich fahre mir durch die etwas strähnigen Locken und stelle erneut fest, dass mir nichts von alldem bekannt vorkommt. Mir klebt ein wenig Dreck auf der Wange. Ich wische ihn mir mit dem Handrücken weg, dann schließe ich mich ein und beginne, mich auszuziehen.

      Erst jetzt fällt mir auf, wie dreckig meine Klamotten sind: Alles ist mit rotbraunen Sandflecken überzogen – die gestreifte Kapuzenjacke, die zerschlissenen Jeans und auch die dunkelblauen Chucks an meinen Füßen. Das einzige halbwegs saubere Kleidungsstück ist das dunkle T-Shirt mit irgendeinem englischen Aufdruck, der nicht besonders viel Sinn macht. Könnte allerdings auch sein, dass man die Flecken auf dem dunklen Stoff nur nicht so gut sieht…

      Bevor ich in die Dusche trete, betrachte ich mich noch einmal kurz im Spiegel, doch immer noch scheint es der Körper einer Fremden zu sein, in dem ich mich befinde. Erneut spüre ich den Kloß in meinem Hals, doch bevor mir die Tränen kommen, steige ich in die Duschkabine und drehe den Wasserhahn auf. Es ist ein unglaublich angenehmes Gefühl, das warme Wasser über meinen Kopf laufen zu spüren, und zum ersten Mal an diesem Abend fühle ich so etwas wie Erleichterung. Ich bin in Sicherheit. Ich kann hier schlafen. Mir wird hier nichts passieren. Fürs Erste geht es mir gut, auch wenn ich mich an nichts erinnern kann.

      Eine Welle der Dankbarkeit überrollt mich. Wer weiß, was mit mir passiert wäre, wenn Lukas mich nicht im Wald aufgegabelt hätte…

      Ich finde nur ein Shampoo und ein Duschgel für Frauen – vermutlich gehören sie auch dieser Johanna.

      Ich schäume meinen Körper und meine Haare damit ein und fahre zusammen, als ich meinen Hinterkopf berühre. Etwas tut weh, aber meine Finger sind nicht rot, also blute ich nicht. Ein wenig beunruhigt drehe ich das Wasser wieder auf. Ich meide die Stelle, während ich den Schaum abspüle.

      Als ich aus der Dusche steige, fühle ich mich wie neugeboren. Ich rieche an meinen blumig duftenden Haaren, schlinge mir ein Handtuch, das ich aus dem Badregal nehme, um den Körper, und betrachte mich noch einmal im Spiegel. Immer noch klingelt nichts.

      Seufzend fahre ich mir durch die verknoteten Haare. Mein Blick fällt auf eine Haarbürste, die im Regal liegt. Ich ziehe ein paar dunkle Haare aus den Borsten, bevor ich sie benutze.

      „Sorry, Johanna“, murmele ich, während ich mein Haar entwirre.

      Danach greife ich nach dem ebenfalls bereitliegenden Föhn und trockne mein Haar.

      Bevor ich aus dem Badezimmer trete, werfe ich vorsichtig einen Blick auf den Gang. Niemand da, also schließe ich