Laura Herges

Wer ist Clara?


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kann man nur so unordentlich sein?“, murmelt er kopfschüttelnd, was mich amüsiert.

      „Pubertät halt“, sage ich schulterzuckend, was ihm ebenfalls ein Lachen entlockt.

      „Also, da es hier überhaupt kein System zu geben scheint – oder ich einfach zu dumm bin, um das System zu verstehen – würde ich sagen, du nimmst dir einfach irgendwas, was dir gefällt.“

      „Ich hoffe, ich erwische jetzt nicht gerade Johannas Lieblingsteil…“, sage ich zögernd.

      „Solange es nicht schwarz oder lila ist, ist das Risiko relativ gering“, erwidert er und zwinkert mir zu. Ich spüre schon wieder, dass ich rot werde, und sehe weg, während ich mich durch die Kleider wühle. Dabei stoße ich auf eine lange Jeans.

      „Dafür ist es, glaube ich, zu warm heute“, meint Jakob, der sich ebenfalls auf die Suche gemacht hat.

      Ich lege die Hose zurück und nehme stattdessen eine Jeansshorts. Ich halte sie mir kurz an den Körper. Müsste passen.

      „Hier, versuch das mal“, sagt Jakob in diesem Moment und drückt mir ein beigefarbenes Shirt mit großen Rüschen am Ausschnitt in die Hand.

      „Das gehört Johanna?“, frage ich ungläubig.

      „Ja, kaum zu glauben, was?“, entgegnet er amüsiert, „Das hatte sie vor ein paar Monaten noch gefühlt jeden zweiten Tag an. Und da hatten ihre Haar noch die gleiche Farbe wie die von Lukas…“

      „Und warum ist sie dann so… geworden?“, frage ich zögernd.

      „Pubertät?“, erwidert er schulterzuckend, und wir müssen beide lachen. „Ich hoffe jedenfalls, dass es nur eine Phase ist“, meint er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich gehe dann mal nach unten und warte, bis du fertig bist.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und lässt mich allein.

      Mir wird klar, dass ich noch einen BH brauche, und mein Blick fällt auf die Schubladen im unteren Bereich des Schranks. Ich bücke mich und öffne eine der Schubladen, doch ich sehe nur Socken. Ich wühle durch die Strümpfe, in der Hoffnung, doch noch einen BH zu entdecken, aber stattdessen stoße ich auf etwas anderes: Am Boden der Schublade liegt etwas Helles, Flaches. Es ist ein Foto, verborgen zwischen all den Socken, auf dem ich eine strahlende Johanna sehe. Das geht mich nichts an. Schnell schließe ich die Schublade wieder und öffne die darunter. Bingo.

      Ich nehme mir einen schlichten weißen BH ohne Bügel aus der Schublade. Dann zögere ich für einen Moment. Meine Neugier siegt schließlich doch, und ich öffne die Schublade mit den Socken wieder. Mit einem schlechten Gewissen nehme ich das Foto heraus und betrachte es. Es ist ein Polaroid und die Johanna auf dem Foto hat hellbraunes, langes Haar und trägt ein rosafarbenes Shirt. Sie sieht jünger aus, auch wenn das Foto wahrscheinlich noch gar nicht so alt ist. Die schwarzen Haare und das dunkle Make-up lassen sie älter wirken. Ich drehe das Polaroid um und sehe, dass jemand etwas auf die Rückseite geschrieben hat:

      ‚Du bist wunderschön, meine Süße‘, steht dort in unordentlichen, gekritzelten Buchstaben.

      Schnell lege ich das Foto zurück in die Schublade. Das geht mich nun wirklich nichts an…

      Ich nehme mir ein Paar Socken und ziehe mich um. Erst beim Anziehen bemerke ich, dass das Shirt schulterfrei ist. Als ich alles angezogen habe, betrachte ich mich im Spiegel. Sieht eigentlich ganz gut aus. Aber Jakob meinte, draußen wäre es ziemlich warm – zu warm für meine offenen langen Haare vermutlich. Schnell gehe ich ins Bad und werfe einen Blick in Johannas Regalfach. Zum Glück finde ich gleich ein Haargummi, mit dem ich mir die Haare vorsichtig, um nicht an meine Wunde zu kommen, zu einem Pferdeschwanz binde.

      Dann gehe ich schnell die Treppe nach unten. Jakob sitzt auf der Couch im Wohnzimmer und ist mit seinem Handy beschäftigt. Als ich hereinkomme, lässt er es sinken und betrachtet mich.

      „Sieht gut aus“, meint er mit einem Lächeln, das mich schon wieder erröten lässt, und erhebt sich. Im Flur steht ein großer Schuhschrank, aus dem er mir ein Paar helle Turnschuhe reicht.

      „Glaub mir, Johanna hat dafür sicher keine Verwendung mehr“, sagt er, als er meinen fragenden Blick sieht. Dann schlüpft auch er in ein Paar Turnschuhe, nimmt einen Schlüssel von dem Brett, das neben der Haustür hängt, und wir gehen nach draußen.

      Die Sonne scheint vom strahlend blauen Himmel und unter anderen Umständen hätte ich sicher einen Moment innegehalten, um ihre Wärme auf meinem Gesicht zu genießen, aber jetzt gerade habe ich keinen Kopf dafür. Ich bin nervös. Wie gestern schießen mir tausend Fragen durch den Kopf, zu denen ich keine Antwort kenne.

      Wir laufen die Stufen, die zur Straße führen, hinunter und zu einem alten Polo, der am Straßenrand geparkt steht. Im Vorbeigehen fällt mir das Klingelschild mit der Aufschrift ‚Sommer‘ auf. Bis eben wusste ich noch nicht mal, wie die Familie, bei der ich übernachten durfte, mit Nachnamen heißt…

      „Ist das dein Auto?“, frage ich, als Jakob die Fahrertür des Polos aufschließt und mir bedeutet, auf der Beifahrerseite Platz zu nehmen.

      „Ja“, entgegnet er, als wir beide sitzen, „Ich hab’s zum achtzehnten geschenkt bekommen. Ist zwar eine alte Kiste, aber mir reicht’s.“

      Ich steige in das aufgeheizte Auto, und fange sofort an, zu schwitzen. Hier drinnen ist die reinste Sauna. Als er den Motor startet, schaltet sich auch das Radio ein, und ein Song ertönt, den ich von irgendwoher kenne.

      „Sind das… die Red Hot Chili Peppers?“, frage ich zögernd.

      „Ja, genau!“, erwidert Jakob, während er das Auto auf die Straße fährt. Er lächelt mir zu. „Das ist ‚Under the Bridge‘, eins meiner Lieblingslieder. Magst du die Band auch?“

      Ich zucke mit den Schultern, und sein Lächeln wird ein wenig schwächer.

      „Oh, stimmt ja. Tut mir leid“, sagt er, und ich schweige ein wenig beschämt.

      Jakob fährt los, die Straße runter, die ich gestern mit Lukas entlanggelaufen bin. Im Tageslicht stelle ich fest, dass es nur einen winzigen Bürgersteig gibt, wenn überhaupt; an manchen Stellen fehlt er komplett. Die Häuser haben alle höchstens ein Stockwerk über dem Erdgeschoss, ganz selten auch zwei, und oft einen Vorgarten. In einigen spielen Kinder oder Erwachsene sitzen in der Sonne. Wir kommen jetzt ans Ende des kleinen Hügels, den Lukas und ich gestern hoch gelaufen sind, und biegen nach rechts ab. Links ist der Wald, aus dem ich gekommen bin, rechts das Dorf. Schon wieder führt die Straße bergab. Es fasziniert mich, wie die Häuser an den hügeligen Untergrund angepasst sind: Manche von ihnen scheinen geradezu aus dem Boden herauszuwachsen. Hier unten sind die Häuser kleiner, und ich kann keine Vorgärten mehr sehen. Wir fahren an einem kleinen Dorfplatz vorbei, der das Zentrum des Ortes zu bilden scheint. Ein Brunnen aus rotem Sandstein mit einer schwarz lackierten Wasserpumpe steht in der Mitte des kleinen Platzes, und einige Kinder jagen einander mit Wasserspritzpistolen. Ich schaue ihnen nach, als wir vorbeifahren.

      „Meine Freunde und ich haben das früher auch oft gemacht“, sagt Jakob plötzlich, „Wasserschlachten am Brunnen, das waren noch Zeiten…“

      Ich schaue ihn an, doch sein Blick ruht weiterhin auf der Straße.

      „Es muss toll sein, an so einem schönen Ort aufzuwachsen“, sage ich.

      „Ja, auf jeden Fall“, erwidert er lächelnd.

      Wir haben jetzt das Ende des Dorfs erreicht, und vor uns liegt eine Landstraße. Jakob bleibt an der Einmündung zum Dorf stehen und ich erhasche einen Blick auf das Ortsschild. Völkersweiler. Warum klingelt da bei mir nichts? Und was habe ich nur hier gemacht?

      Ich seufze leise, aber anscheinend nicht leise genug, denn plötzlich sagt Jakob: „Du musst keine Angst haben, Herr Weiß ist echt nett. Er war schon immer unser Hausarzt.“

      „Das ist es nicht“, erwidere ich, „Ich hab nur Angst davor, was er sagen wird…“

      Jakob biegt nach rechts auf die Landstraße ab. „Egal was