Laura Herges

Wer ist Clara?


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schüttele den Kopf. „Nein. Als ich… als Lukas mich gefunden hat, war ich… ziemlich schmutzig, aber nicht verletzt.“

      „Dann lässt das für mich nur einen Schluss zu“, meint der Arzt, „Jemand muss Sie niedergeschlagen haben.“

      Früher:

      Ich habe es niemandem erzählt – wem denn auch?

      Meine Eltern haben ihre eigenen Sorgen und Probleme, und Freunde habe ich nicht – nicht mehr…

      Die letzten Monate waren die schlimmsten meines Lebens, und dann taucht plötzlich dieser Brief auf und bringt alles noch mehr durcheinander, als es ohnehin schon war. Ich bin wütend auf mich selbst, darüber, dass ich mich schon wieder so aus der Bahn werfen lasse.

      Und falls es doch einen Gott gibt, bin ich auch wütend auf ihn: War das letzte Jahr denn nicht schon genug?

      Jetzt:

      Kapitel 3: Verschollen

      Mir ist plötzlich eiskalt. „Sind Sie sich sicher?“, frage ich, „Könnte ich nicht vielleicht… im Wald spazieren gegangen, und dann ausgerutscht sein, und gestürzt, oder so was?“

      Doch der Arzt schüttelt den Kopf. „Nein, dann hätten Sie auch noch weitere Verletzungen. Aber wenn es wirklich nur diese eine Wunde ist, kann ich mir nichts anderes vorstellen.“

      Geschockt senke ich den Blick. Wer sollte so etwas tun? Und vor allem: Warum?

      „Ich verstehe das nicht…“, murmele ich.

      „Werden die Erinnerungen denn zurückkommen?“, fragt Jakob in dem Moment.

      Oh mein Gott, daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht! Gespannt blicke ich den Arzt an, doch zu meiner Erleichterung nickt er.

      „Bei fast allen durch Verletzungen ausgelösten Amnesien kommen die Erinnerungen irgendwann zurück.“

      „Irgendwann?“, frage ich, während mein Herz schwer wird.

      „Das variiert stark, aber in Ihrem Fall würde ich sagen, dass es frühestens in ein paar Tagen und spätestens in ein paar Wochen passieren wird.“

      Ein paar Wochen… Und was mache ich bis dahin?

      „Können wir denn irgendwas tun, um zu helfen?“, fragt Jakob.

      „Ich fürchte nein“, meint der Arzt und wendet sich dann wieder an mich. „Es kann sein, dass bestimmte Trigger ihre Erinnerungen teilweise zurückbringen. Das ist oft der Fall. Bestimmte Orte, Klänge, Gerüche; es kann alles Mögliche sein. Aber außer Ihnen Schmerzmittel für die Wunde zu verschreiben, kann ich leider nichts tun.“

      „Danke, aber das brauche ich nicht“, erwidere ich. Was ich brauche, sind meine Erinnerungen, und die kann mir im Moment niemand zurückgeben…

      „Gut, wir sollten es aber dennoch röntgen lassen, auch wenn ich nicht glaube, dass Sie bleibende Schäden davongetragen haben. Und falls die Wunde sich doch entzünden sollte, kommen Sie sofort zu mir, in Ordnung?“

      Ich nicke. „Danke“, sage ich dann und schüttele ihm zum Abschied die Hand. Nachdem sich auch Jakob sich verabschiedet hat, verlassen wir die Arztpraxis – allerdings nicht ohne, dass er noch ein ‚Tschüss‘ in Richtung der Rezeption ruft und sogleich ein Echo davon zurückbekommt.

      Als wir im Auto sitzen, lasse ich erschöpft den Kopf in meine Hände fallen und schließe für einen Moment die Augen.

      „Hey, Kopf hoch“, meint Jakob aufmunternd und legt sanft seine Hand auf meinen Rücken. Ich schaue ihn an.

      „Es könnte immer noch schlimmer sein“, sagt er.

      „Ach ja? Wie denn?“, erwidere ich niedergeschlagen.

      „Du könntest zum Beispiel obdachlos sein.“

      „Wer weiß, vielleicht bin ich’s ja“, entgegne ich, „Ich hatte ja noch nicht mal einen Geldbeutel oder ein Handy dabei…“ Ich überlege einen Moment lang, dann frage ich: „Glaubst du, dass die Person, die mich niedergeschlagen hat, mir meine Sachen gestohlen hat?“

      „Vielleicht hast du’s auch einfach nur verloren“, meint Jakob. „Wir werden es gleich herausfinden. Meine Eltern haben gestern schon gesagt, dass ich mit dir zur Polizei gehen soll. Vielleicht gibt es ja eine Vermisstenanzeige. Oder vielleicht hat jemand deine Sachen gefunden und abgegeben. Also: jetzt erst mal ins Krankenhaus zum Röntgen, und dann fahren wir zur Polizei.“ Mit diesen Worten nimmt er seine Hand von meinem Rücken und startet den Motor.

      „Ich wünschte, ich könnte so optimistisch sein wie du…“, sage ich, während ich mich anschnalle.

      Wir fahren den Weg zurück nach Völkersweiler, doch anstatt links in den Ortseingang abzubiegen, fahren wir weiter. Die Landstraße führt einen ziemlich steilen Hügel hinauf und dann in einer scharfen Kurve weiter bergauf, bevor es wieder bergab geht, mitten in den Wald hinein.

      „Ziemlich schwierige Strecke, oder?“, frage ich etwas beunruhigt. Jakob gibt ganz schön Gas. Und er ist zwanzig, wie viel Fahrerfahrung kann er schon groß haben?

      „Ach, ich bin früher jeden Tag diese Strecke in die Schule gefahren. Man gewöhnt sich ziemlich schnell dran…“

      Ich schaue aus dem Fenster und bin überrascht, dass es scheinbar mitten im Wald überhaupt so gute Straßen gibt. Es ist wirklich schön hier, aber auch ziemlich weg vom Schuss…

      „Ich würde dich ja nach Musikwünschen fragen, aber das Auto ist so alt, dass ich nur einen CD-Player habe“, sagt Jakob in dem Moment.

      „Ach, kein Problem, mir gefällt deine Musik“, erwidere ich. Jetzt gerade läuft ein weiteres Lied, das mir bekannt vorkommt.

      „Ist das…? Warte, gib mir eine Sekunde.“ Ich schließe die Augen und denke nach. „‚Gives You Hell‘ von The All-American Rejects.“

      „Ich bin beeindruckt“, sagt Jakob grinsend. „Ist schon faszinierend, wie du dein Allgemeinwissen noch zu haben scheinst, aber nichts über dich selbst weißt…“

      „Ja…“, murmele ich und versinke fast wieder in meine Gedanken, doch Jakob unterbricht mich.

      „Do you speak English?“, fragt er plötzlich.

      „Yes, I do“, entgegne ich wie automatisch und blicke ihn überrascht an.

      „Parles-tu français?“, fragt er weiter.

      „Oui?“, erwidere ich gedehnt.

      „¿Hablas español?“

      Ich blicke ihn an. „Nee“, entgegne ich dann und wir müssen beide lachen. „Aber danke, dass du mir demonstriert hast, dass mein Gehirn zumindest teilweise noch funktioniert…“

      „Ich könnte jetzt auch anfangen, dir Matheaufgaben zu stellen, aber lassen wir das lieber, da würde ich mich wahrscheinlich total blamieren.“

      „Was ist Mathe noch mal?“, frage ich, und wir lachen beide.

      Jakob ist der erste Mensch, vor dem mir mein Gedächtnisverlust nicht unangenehm ist. Er ist der erste, der mir nicht das Gefühl gibt, dass ich mich für irgendwas entschuldigen müsste. Und ich schaffe es sogar noch, Witze über meine Situation zu machen, obwohl sie echt alles andere als lustig ist…

      Wir haben inzwischen den Wald durchquert und ich sehe wieder nur noch Felder zu beiden Seiten der Straße.

      „Und du bist die Strecke jeden Tag gefahren?“

      Er nickt. „Mittlerweile nur noch einmal die Woche, wenn ich montags nach Heidelberg fahre.“

      „Gefällt’s dir dort besser als hier?“, frage ich.

      „Es ist anders“, erwidert er, „Die Stadt ist super schön, und