Laura Herges

Wer ist Clara?


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geht: um mich.

      „Sie hat doch nichts! Was hätte ich denn machen sollen?“

      „Mich vorher fragen vielleicht?“

      „Oh Mann, Jojo, du warst halt nicht da!“

      „Warten bis ich da bin?“

      So in etwa geht das Gespräch, dem ich lausche, während ich mich vorsichtig der Tür nähere, aus der die Stimmen dringen. Die Kälte des Fußbodens zieht durch meine nackten Sohlen in meinen gesamten Körper, doch ich bin zu neugierig, um jetzt umzukehren. Ich sehe das Mädchen nur von hinten: Sie hat tatsächlich schwarzes Haar, das ihr glatt bis knapp über die Schultern fällt. Sie trägt einen lilafarbenen Hoodie, einen schwarzen Minirock und eine Netzstrumpfhose. Über ihre Schulter hinweg sehe ich Lukas, der mit genervtem Gesichtsausdruck die Hände ringt.

      „Es musste aber jetzt sein!“

      „Sorry, dass ich genervt bin, wenn du meine Sachen irgendwelchen dahergelaufenen Waldmädchen gibst!“

      In dem Moment trifft mich Lukas‘ Blick. Ich weiche erschrocken zurück, doch das Mädchen hat schon begriffen: Sie dreht sich zu mir um und ihr Blick fällt auf mich. Ich erröte und stammele eine Entschuldigung.

      „Ich wollte euch nicht belauschen, ehrlich!“

      Wie ihre Brüder wechselt auch Johanna sofort ins Hochdeutsche.

      „Ähm, du bist also…?“

      „Das Waldmädchen“, kann ich mir nicht verkneifen, und strecke ihr meine Hand entgegen, während meine andere weiterhin das Handtuch über meiner Brust festhält, „Clara.“

      „Hi, ich bin Johanna“, erwidert sie und schüttelt meine Hand. Sie ist ebenfalls rot geworden, und es ist mehr als deutlich, wie unangenehm ihr die ganze Situation ist. Lukas hingegen scheint sich prächtig zu amüsieren: Auf seinem Gesicht hat sich ein belustigtes Grinsen ausgebreitet.

      „Tut mir leid, dass du mir deine Sachen ausleihen musst“, sage ich zögernd.

      „Nein! Nein, das muss es nicht, ehrlich!“, erwidert sie. Ihre mit dunklem Kajal umrandeten Augen sind vor Schreck weit geöffnet. „Wirklich, das ist kein Problem. Lukas hat dir auch schon ein paar Schlafsachen aufs Bett gelegt.“

      „Danke“, erwidere ich mit einem zögernden Lächeln.

      Die Blicke der beiden bleiben an mir hängen und ich fühle mich plötzlich nackt, trotz des Handtuchs.

      „Ich gehe dann mal schlafen“, sage ich schnell, „Gute Nacht!“

      „Gute Nacht!“, erwidern beide, und Lukas fügt noch ein „Schlaf gut!“, hinzu, während ich mich schon auf dem Weg ins Gästezimmer befinde.

      Auf dem Bett liegt ordentlich zusammengefaltet ein Schlafanzug, bestehend aus lila gestreiften Shorts und einem Top, auf dem in großen Buchstaben „I need coffee“ neben einem Coffee to Go-Becher steht. Ich weiß noch nicht mal, ob ich gerne Kaffee trinke. Seufzend nehme ich den Schlafanzug, unter dem noch eine Unterhose zum Vorschein kommt. Erneut werde ich rot, auch wenn ich alleine bin. Es ist mir trotzdem unangenehm.

      Nach einem Kontrollblick auf die geschlossene Tür lasse ich das Handtuch fallen und ziehe mich um. Immerhin sind die Sachen bequem. Nur das Licht der Straßenlaternen fällt durch das Fenster und taucht das Zimmer in ein gespenstisch kaltes Licht. Ich schalte die kleine Nachttischlampe neben dem Bett ein und gehe zum Fenster, um den Rollladen nach unten zu lassen. Mein Blick fällt auf einen großen Garten, mit einem Brunnen, einem Pavillon und mehreren Bäumen. Plötzlich erregt etwas meine Aufmerksamkeit: Aus dem Augenwinkel habe ich eine Bewegung bei einem der Bäume wahrgenommen. Da, schon wieder! Jemand ist im Garten. Ein schattiger Umriss schält sich aus dem Dunkel des Gartens, doch ich kann nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Die Person hält kurz inne, und ich kann ihren durchdringenden Blick durch das Glas der Scheibe auf meiner Haut spüren. Im nächsten Moment verschmilzt sie wieder mit den Schatten und ist verschwunden.

      Mein Herz schlägt so schnell, dass ich es in meinen Ohren rauschen hören kann. Ich reiße an dem Rollladen, sodass dieser scheppernd nach unten fällt. Dann lege ich mich ins Bett und ziehe mir die Decke bis unters Kinn. Wer auch immer das war, er oder sie hat mich beobachtet.

      Du bist hier in Sicherheit, denke ich wieder und lasse mich langsam auf das Kopfkissen sinken. Als ein spitzer Schmerz durch meinen Kopf schießt, fahre ich sofort wieder hoch. Ich ziehe scharf die Luft ein und berühre reflexartig meinen Hinterkopf. Erneut ertönt der Schmerz in meinem Kopf, diesmal jedoch gedämpfter. Jetzt bin ich mir ganz sicher: Ich habe eine Verletzung. Langsam setze ich mich wieder auf.

      In diesem Moment klopft es an der Tür. Mein Herz setzt schon wieder einen Schlag aus.

      „Ja?“, sage ich zögernd.

      Die Tür öffnet sich und Johanna kommt herein. Erleichtert atme ich aus.

      „Hey Clara, sorry, dass ich dich noch mal störe!“, sagt sie mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen, und setzt sich zu mir auf die Bettkante, „Ich hab das eben nicht so gemeint. Ich war nur genervt, aber du kannst nichts dafür.“

      „Macht nichts“, erwidere ich lächelnd, „Und danke, dass ich deine Sachen ausleihen kann.“

      „Kein Problem“, entgegnet sie und will sich erheben, doch ich halte sie auf.

      „Johanna, warte mal kurz.“ Sie blickt mich fragend an. „Kannst du dir vielleicht mal meinen Hinterkopf ansehen? Ich glaube, dass ich eine Verletzung habe.“

      „Oh… ähm, klar“, sagt sie zögernd, „Warte, lass mich das Licht einschalten.“

      Sie erhebt sich und drückt auf den Lichtschalter neben der Tür. Geblendet kneife ich die Augen zusammen. Dann kommt sie zu mir zurück und ich drehe ihr den Rücken zu. Ich spüre, wie sie meine Haare anhebt und scharf die Luft einzieht.

      „Ja, du hast da ein bisschen Schorf. Tut es sehr weh?“

      Ich drehe mich zu ihr um und blicke in ihr besorgtes Gesicht. Um sie zu beruhigen, schüttele ich den Kopf.

      „Aber du solltest es vielleicht trotzdem mal von einem Arzt ansehen lassen. Das könnte doch gut etwas mit deinem Gedächtnisverlust zu tun haben…“

      Aber natürlich: Ich habe irgendetwas auf den Hinterkopf bekommen und deswegen meine Erinnerungen verloren – alles macht Sinn! Hatte ich etwa einen Unfall? Oder wurde ich… geschlagen? Ich schaudere bei dem Gedanken daran.

      „Wir werden morgen mit dir zum Arzt gehen, okay?“, sagt Johanna, die meine Beunruhigung bemerkt haben muss.

      „Danke, das ist nett“, erwidere ich mit einem Lächeln.

      „Dann schlaf dich mal gut aus. Ich muss morgen in die Schule“, sagt sie mit gequältem Gesichtsausdruck.

      „Schlaf gut“, entgegne ich und lege mich auf die Seite, während Johanna aufsteht, das Licht ausschaltet und die Tür hinter sich zuzieht.

      Diese Verletzung… Der Gedächtnisverlust… So einen Zufall gibt es doch gar nicht, oder? Ich überlege hin und her, versuche fieberhaft, mich zumindest an irgendwas zu erinnern, aber egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich habe keinen Erfolg.

      Frustriert schließe ich die Augen und merke erst jetzt, wie müde ich eigentlich bin. Innerhalb weniger Sekunden bin ich bereits weggedämmert.

       Ich renne. Durch nichtssagende Straßen, vorbei an kahlen Häusern und leeren Gesichtern.

       Ich weiß nicht, wohin ich will, oder woher ich komme.

       Ich weiß nur eines: Ich renne.

      Früher:

      Zunächst habe ich noch geglaubt, jemand wolle mich an der Nase herumführen. Ich habe geglaubt, dass es nur ein grausamer Scherz wäre, von wem auch immer. Aber niemand könnte so grausam sein, sich so etwas auszudenken. Oder zumindest