Laura Herges

Wer ist Clara?


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      Jetzt:

      Kapitel 2: Verwundet

      Ich erwache aus dem merkwürdigen Traum.

      Ich blinzele mehrmals, während sich die Umrisse des Raums aus der Dunkelheit schälen.

      Wo bin ich?, ist mein erster Gedanke. Während die Erinnerung an gestern in mein Gedächtnis zurückkehrt, wird die Frage durch eine andere abgelöst: Wer bin ich?

      Ich kann mich an alles erinnern, was gestern passiert ist: Lukas, seine Familie, die Dusche, die Kopfwunde. Aber alles, was davor war, bleibt nach wie vor vollkommen ausgelöscht.

      Ich schlucke hart und stehe vorsichtig auf. Trotz allem fühle ich mich erholt, und ein Blick auf den Radiowecker neben meinem Bett verrät mir auch warum: Es ist schon halb zwölf. Ich habe fast zwölf Stunden geschlafen.

      Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und öffne den Rollladen. Es ist ein strahlend schöner Tag: Die Sonne scheint von einem hellblauen, wolkenlosen Himmel auf den großräumigen Garten, auf den ich schon gestern einen Blick geworfen habe. Ich denke wieder an die Person, die da unten stand und mich beobachtet hat, und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Wäre es möglich, dass ich mir das nur eingebildet habe, in meinem verwirrten Zustand? Insgeheim hoffe ich es.

      Ich öffne das Fenster und gehe ins Bad, wo ich mir als erstes kaltes Wasser ins Gesicht spritze. Ein weiterer Blick in den Spiegel bringt mir immer noch keine Klarheit. Nun sehe ich die blauen Augen, die blasse Haut und das hellbraune Haar zum ersten Mal im Tageslicht, doch ich erkenne das Mädchen im Spiegel dennoch nicht.

      Als ich nach Johannas Haarbürste greife, fällt mein Blick auf einen Becher, der auf dem Waschbeckenrand steht. Mein Name ist mit einem Edding auf das weiße Plastik geschrieben worden, und darin befinden sich eine ungeöffnete Tube Zahnpasta und eine Zahnbürste. Die Geste rührt mich: Diese Leute kennen mich gar nicht und sind trotzdem so gastfreundlich zu mir. Lächelnd betrachte ich den Becher und putze mir die Zähne. Dann trete ich aus dem Badezimmer in den Flur. Alles ist ruhig und ich weiß zunächst nicht, was ich jetzt tun soll. Dann entscheide ich mich, nach unten zu gehen. Barfuß gehe ich die Treppe hinab und spüre erneut, wie die Kälte des Bodens in meine Fußsohlen steigt.

      Unten angekommen werfe ich zunächst einen Blick ins Wohnzimmer, wo mich gestern Eva und Paul begrüßt haben, doch auch dieser Raum ist leer. Es ist trotzdem interessant, alles im Tageslicht zu sehen: Das Zimmer ist hell, mit weißen Holzmöbeln und einer großen, grauen Couchlandschaft. An den Wänden hängen unzählige Bilder. Neugierig betrete ich den Raum und schaue mir die Bilder an: Es sind vor allem Kinderfotos, dazwischen auch ein paar Hochzeitsbilder, die offensichtlich aus den Neunzigern stammen. Ein Bild springt mir besonders ins Auge, weil hier die ganze Familie versammelt ist: Vater, Mutter und drei Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen. Hier sind sie allerdings noch weitaus jünger, zwischen zehn und fünf vielleicht.

      „Gefallen dir die Bilder?“

      Ich zucke zusammen und fahre herum.

      „Oh, Entschuldigung! Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid.“ Vor mir steht der Junge, der mir schon gestern Abend begegnet ist: Lukas‘ Bruder.

      „Hast… du gut geschlafen?“, fragt er zögernd.

      Ich nicke stumm. Er kommt langsam näher und stellt sich neben mich. Er ist etwa einen halben Kopf größer als ich. „Das da ist Lukas“, sagt er und deutet auf den kleineren Jungen auf dem Familienbild, „Das ist Johanna“, er zeigt auf das Mädchen, „Und das bin ich.“ Sein Finger verweilt kurz auf dem größten Kind, einem kleinen Jungen mit drei Zahnlücken. Lächelnd blicke ich von dem Foto zu ihm. Seine Augen sind genau die gleichen: dunkelbraun und glänzend. Er sieht Lukas nicht besonders ähnlich – dieser hat etwas helleres Haar und hellere Augen, ebenso wie Johanna. Diese hat zwar sogar noch dunklere Haare als ihr ältester Bruder, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sie nur schwarz färbt, damit sie zu ihrem restlichen Stil passen.

      „Das ist ein schönes Bild“, sage ich zögernd, „Es ist mir direkt aufgefallen. Ihr seht alle so fröhlich aus.“

      „Ja, das stimmt“, erwidert er, während sein Blick auf dem Bild verweilt. In seinem Lächeln glaube ich, etwas Wehmütiges erkennen zu können. Dann blickt er plötzlich wieder mich an. „Hast du Hunger?“

      Ich nicke. „Dann komm mit“, entgegnet er lächelnd und läuft voraus in die Küche. Auch dieser Raum ist lichtdurchflutet – vor einer Eckbank steht ein großer Tisch aus hellem Holz, und davor noch drei dazu passende Stühle. Auch die Küchenzeile ist groß und modern.

      „Was magst du?“, fragt er, „Müsli? Toast?“

      „Toast ist super“, entgegne ich.

      „Okay, ich mache dir einen“, erwidert er, „Setz dich doch!“ Er deutet mit dem Kopf zu dem Tisch. Ich lasse mich auf die Küchenbank sinken und lehne meinen Rücken an. Hier ist es immerhin wärmer als im Wohnzimmer, denn die Sonne scheint direkt durch die Fenster in diesen Raum.

      Ich betrachte ihn still, während er Toast aus einer der Schubladen holt und ihn in den Toaster steckt. Dann dreht er sich zu mir um. „Magst du Kaffee?“

      Ich überlege für einen Moment. „Ich glaube nicht“, erwidere ich dann zögernd.

      „Kakao?“, fragt er. Ich nicke. Er dreht sich wieder um und werkelt weiter in der Küche herum.

      Ich beiße mir auf die Lippe, bevor ich ein wenig beschämt frage: „Kannst du mir deinen Namen noch mal sagen?“

      Er dreht sich um und lächelt mich an. „Klar, ich bin Jakob.“

      „Jakob“, wiederhole ich leise und nicke.

      „Und du bist Clara?“, vergewissert er sich noch einmal, während er sich lächelnd mit dem Rücken gegen die Küchenzeile lehnt.

      „Ja.“ Mein Name – das Einzige, woran ich mich noch erinnern kann…

      „Mit K oder mit C?“, fragt er weiter.

      „Mit C“, entgegne ich sofort.

      „Das hast du also nicht vergessen“, murmelt er gedankenverloren. Ich nicke wieder.

      „Und ansonsten weißt du nichts mehr? Auch nicht, wie alt du bist? Oder was du im Wald gemacht hast?“

      „Keine Ahnung“, erwidere ich leise.

      „Ich bin mir sicher, dass deine Erinnerungen wieder zurückkommen“, meint er. Es soll aufheiternd klingen, aber ich bin gerade nicht besonders optimistisch. „Hey“, sagt er dann zögernd, „Johanna hat gesagt, dass du eine Verletzung am Hinterkopf hast?“

      „Ja.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

      „Darf ich… mal sehen?“

      Ich nicke und drehe mich um. Behutsam streicht er mein Haar beiseite. Sein Daumen berührt dabei kurz meinen Nacken. Die Berührung ist sanft, wenn auch unbeabsichtigt. Mir läuft ein wohliger Schauer über den Rücken und ich hoffe, dass er es nicht gemerkt hat.

      „Das sieht nicht gerade gut aus“, sagt er, „Wir sollten sowieso mal zum Arzt fahren, nachdem du was gegessen hast.“ Er lässt mein Haar los und ich drehe mich wieder zu ihm um.

      „Du und ich?“, frage ich zögernd.

      „Klar, wer sonst? Es ist niemand anderes hier“, entgegnet er lächelnd.

      „Aber wo sind denn alle?“, frage ich.

      „Arbeiten oder in der Schule“, erwidert Jakob, „Es ist Mittwoch.“

      „Oh.“ Natürlich. Plötzlich komme ich mir ziemlich dumm vor. Nur, weil diese Leute mich gestern aufgenommen haben, heißt das natürlich nicht, dass sie keinen Alltag haben.

      In dem Moment ertönt ein klackendes Geräusch. Ich zucke