Laura Herges

Wer ist Clara?


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fahren an einem kleinen Friedhof vorbei, und dann befinden sich plötzlich sowohl rechts als auch links von uns nur noch Wiesen. Allerdings nur für etwa eine Minute, denn dann taucht schon das nächste Ortsschild vor uns auf. Gossersweiler-Stein.

      „Komischer Name“, murmele ich. Auch dieser Ort sagt mir rein gar nichts.

      „Ja, stimmt“, erwidert Jakob lachend, „Und er wird noch komischer, wenn du ihn pfälzisch aussprichst. Beziehungsweise die zwei Namen. Gossersweiler und Stein sind eigentlich zwei getrennte Dörfer – und wenn du zu jemandem aus Stein sagst, dass er in Gossersweiler lebt, dann Gnade dir Gott…“

      Ich muss lachen. „So schlimm?“

      Jakob blickt mich an. „Ich würd’s nicht versuchen“, meint er lachend. „Jedenfalls sagen wir zu Stein ‚Stä‘ und zu Gossersweiler ‚Gousch‘.“

      „Hä, wieso das denn?“ Ich muss schon wieder lachen.

      „Keine Ahnung“, entgegnet er schulterzuckend, „Da müsste ich meinen Opa fragen, aber der weiß es vermutlich auch nicht…“

      Wir fahren in eine Rechtskurve und biegen dann rechts ab.

      „Da ist es“, meint Jakob, als wir eine kleine Rampe hinauf fahren. Auf dem kleinen Parkplatz stehen bereits fünf Autos, was bedeutet, dass schon so gut wie alle Plätze belegt sind. Jakob parkt den Polo auf dem äußersten, dem einzigen freien Parkplatz, und wir steigen aus und laufen zur gläsernen Eingangstür. Galant hält er sie für mich auf. „Danke“, sage ich ein wenig verlegen und betrete die Praxis. Es ist etwas dunkel drinnen, und als ich mich umsehe, wird mir bewusst, wie klein hier alles ist: Wir stehen quasi mitten im Wartezimmer, das einfach der vordere Teil des Raums ist, nicht abgetrennt durch eine Tür, eine Wand oder etwas Ähnliches. Und direkt vor uns, ebenfalls im selben Raum, befindet sich die Rezeption. Jakob läuft an mir vorbei und erst jetzt wird mir klar, dass ich verwirrt stehen geblieben bin. Schnell laufe ich ihm nach.

      „Bitte?“, fragt das Mädchen, das an der Rezeption sitzt und wohl kaum älter ist als wir.

      „Hallo“, erwidert Jakob und sagt dann etwas auf Pfälzisch, dass ich als „Wir würden gerne in die Sprechstunde“ identifiziere.

      „Wie jetzt, du oder sie?“ Das Mädchen deutet auf mich.

      „Ähm…“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll, doch Jakob setzt bereits zu einer Erklärung an.

      „Eigentlich sie“, sagt er, „Aber ich geh mit.“

      „Okayyyy“, entgegnet das Mädchen gedehnt, und meint an mich gewandt: „Ich bräucht dann noch‘s Kärtel.“

      Fragend blicke ich sie an.

      Jakob seufzt und erwidert: „Hat se net.“

      Jetzt fällt der Groschen bei mir: Sie will meine Krankenkassenkarte. Jakob senkt die Stimme und erklärt in einer Kurzfassung den Grund für unseren Arztbesuch.

      Das Mädchen seufzt und erklärt, dass sie irgendeine Karte bräuchte, woraufhin Jakob ihr sagt, dass sie seine nehmen soll. Mit vorwurfsvollem Blick folgt sie seinem Rat, steckt seine Karte in das Erfassungsgerät und gibt sie ihm dann zurück.

      „Dann grad noch än Moment Platz nemme“, sagt sie und deutet mit dem Kopf auf den Wartebereich, aus dem uns schon von weitem neugierige Blicke entgegenschlagen.

      Als wir hinlaufen, schauen die meisten weg, während andere keinen Hehl aus ihrer Neugier machen.

      „Hallo“, sagt Jakob freundlich in die Runde, woraufhin die meisten auch ein Hallo murmeln, dann setzen er und ich uns auf die äußersten Plätze einer Wartebank. Außer uns sitzen noch eine junge Mutter mit zwei quengelnden Kindern, ein Mann in Handwerkerkleidung, zwei alte, miteinander tuschelnde Damen und ein etwa vierzehn- oder fünfzehnjähriger Junge im Wartebereich. Während die Damen weiterreden, wirft eine von ihnen immer wieder Blicke in Jakobs und meine Richtung.

      „Warum schauen die so?“, flüstere ich ihm zu, was ihn zu amüsieren scheint.

      „Weil sie dich nicht kennen“, erwidert er so dicht an meinem Ohr, dass sein Atem mich kitzelt. Ich blicke ihn an.

      „Du bist etwas Neues, Exotisches, worüber es sich zu tratschen lohnt“, meint er mit einem amüsierten Grinsen, „Ignorier es einfach.“

      „Und dich kennen sie?“, frage ich nach.

      „Ich glaube, eine von ihnen war mit meiner Oma befreundet, keine Ahnung. Nur weil alte Leute dich kennen, heißt das nicht, dass du sie auch kennst. Meistens ist das Gegenteil der Fall…“

      Die Frau mit den Kindern wird ins Behandlungszimmer gerufen. Die beiden alten Frauen quatschen immer noch über uns.

      Ich nehme mir eine der Zeitschriften, die auf dem niedrigen Tisch vor uns liegen, und lese ein wenig darin. Es ist ein Naturmagazin mit Bildern von wunderschönen Landschaften. Ich blättere es durch und betrachte circa hundert Orte, an denen ich jetzt lieber wäre als hier.

      „Jakob Sommer?“, sagt plötzlich eine Stimme und Jakob erhebt sich. Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Ich laufe Jakob nach und folge ihm durch eine offene Tür neben der Rezeption. Es befindet sich nicht viel in dem Raum, nur ein Schreibtisch mit Drehstuhl, zwei weitere Stühle, ein Waschbecken und eine Liege. Am Schreibtisch sitzt ein Mann, der uns den Rücken zuwendet. Jakob setzt sich auf einen der anderen Stühle und ich folge zögernd seinem Beispiel.

      Der Mann steht auf und schließt die Tür. Er ist vielleicht Mitte 40, hat dunkle Haare und eine Brille. Erst als er zurückkommt, scheint er mich zu bemerken.

      „So, womit kann ich helfen?“, fragt er und nimmt auf seinem Stuhl Platz. Ich bin überrascht, dass er hochdeutsch spricht.

      „Wir sind eigentlich nicht wegen mir hier, sondern wegen ihr.“ Jakob deutet mit dem Kopf auf mich. „Mein Bruder hat sie gestern im Wald gefunden, und sie hat ihr Gedächtnis verloren.“

      Der Arzt blickt von Jakob zu mir und sein Blick ruht auf mir, ohne dass er etwas sagt.

      „Er hat Recht“, sage ich nervös, „Alles woran ich mich erinnern kann, ist mein Vorname. Ich…“ Ich muss schlucken. „Ich glaube, dass mich etwas am Hinterkopf getroffen hat. Ich habe da eine Wunde…“

      „Kann ich mir die mal ansehen?“, fragt der Arzt. Ich nicke und stehe auf. Dann wende ich ihm den Rücken zu, löse meinen Zopf und streiche mein Haar beiseite, sodass er die Wunde betrachten kann.

      Der Arzt stößt einen Pfiff aus. „Das ist nicht gerade was Kleines. Eigentlich hätte man die auch nähen können, aber dafür ist es jetzt zu spät… Wurde die Wunde gereinigt?“

      „Ich war gestern duschen“, murmele ich kleinlaut und wende mich wieder dem Arzt zu.

      „Wir sollten sie trotzdem noch desinfizieren“, meint er, „Ich bin gleich zurück.“

      Mit diesen Worten verlässt er das Zimmer und lässt uns allein zurück.

      „Hey, alles klar?“, fragt Jakob.

      Ich nicke. „Ich frage mich nur, wie das passiert sein könnte…“

      In diesem Moment kommt der Arzt zurück, mit einem Tupfer und Desinfektionsmittel.

      „Können Sie bitte auf der Liege Platz nehmen?“

      Ich nicke und tue was er sagt. Dann hebe ich mein Haar wieder an, sodass er die Wunde sehen kann, und er beginnt, sie zu desinfizieren. Ich zucke zusammen und stoße einen Schmerzenslaut aus. Das Mittel brennt wie Feuer.

      „Wir haben’s schon“, meint der Arzt in diesem Augenblick. Ich atme einen Moment lang durch, dann frage ich: „Glauben Sie, mein Gedächtnisverlust hängt mit dieser Wunde zusammen?“

      „Das glaube ich nicht nur, da bin ich mir sogar sicher“, erwidert er.

      Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, obwohl ich es bereits geahnt habe.