Laura Herges

Wer ist Clara?


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neues Ortsschild auf: ‚Annweiler‘. Auch das sagt mir rein gar nichts.

      „Warum hören die ganzen Ortsnamen hier mit –weiler auf?“, frage ich.

      „Das hab ich mich auch schon gefragt“, erwidert Jakob lächelnd, „Also, ich habe mal gelesen, dass ein Weiler eine kleine Siedlung ist, kleiner als ein Dorf. Bestimmt haben sich dann die ganzen Weiler hier im Laufe der Zeit zu Dörfern entwickelt. Oder Städten. Annweiler ist sogar eine Stadt.“

      Eine Stadt, die sogar einen Kreisel besitzt, durch den wir soeben gefahren sind… Tatsächlich sehe ich auf den ersten Blick, dass dieser Ort viel größer ist als Völkersweiler oder Gossersweiler: Die Hauptstraße ist zweispurig und die Gebäude größer als in den anderen Orten. Aber dennoch scheint es nur eine Kleinstadt zu sein. Zumindest kann ich nirgends Plattenbauten oder etwas anderes erkennen, was auf eine größere Stadt hindeuten würde…

      Das Krankenhaus ist erwartungsgemäß ziemlich klein, und wir müssen zum Glück nicht lange warten, bis ich drankomme. Die Vermutung des Arztes bestätigt sich, und ich erfahre bereits kurz nach dem Röntgen, dass ich keine inneren Verletzungen davongetragen habe – immerhin etwas.

      Danach machen wir uns gleich auf den Weg zur Polizei: Wir parken in einer Seitenstraße und laufen zu dem Gebäude, in dem sich die Polizeiwache befindet. Als wir reinkommen, stellt sich das Polizeirevier als ähnlich groß wie die Arztpraxis heraus: Es gibt eine Anmeldung, hinter der niemand sitzt, und vier Zimmer, in denen anscheinend gearbeitet wird. Eine Tür steht einen Spaltbreit offen, und ein Gespräch dringt zu uns nach draußen.

      „Ja, genau so müsst des sei!“ Lachen. „Ja, ich sag’s doch! Genau so!“ Wieder Lachen. Ich bin mir sicher, dass es sich hierbei um kein professionelles Gespräch handeln kann. Jakob scheint den gleichen Gedanken zu haben wie ich, denn er geht geradewegs auf die angelehnte Tür zu und klopft gegen den Türrahmen.

      „Wart mol kurz“, sagt die Stimme, und dann: „Ja?“

      Jakob öffnet die Tür und grüßt den Polizisten, zu dem die Stimme gehört.

      Der Mann mittleren Alters sagt etwas auf Pfälzisch in den Telefonhörer, das wohl so etwas bedeutet wie „Hör mal, kann ich dich zurückrufen? Hier ist gerade jemand gekommen…“ Dann legt er auf und bedeutet Jakob und mir hereinzukommen.

      Wir nehmen auf den beiden Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz.

      „Womit kann ich eich helfe?“

      Jakob erwidert – natürlich ebenfalls auf Pfälzisch – dass wir uns nach den Vermisstenanzeigen erkundigen wollten, und dann erzählt er zum dritten Mal heute die Kurzfassung meiner Geschichte. Der Polizist mustert mich einen Moment lang skeptisch, dann tippt er etwas in seinen Computer ein und starrt einige Momente lang auf den Bildschirm, während er mir immer wieder prüfende Blicke zuwirft.

      „Tut mir leid, aber es sieht so aus, als ob Sie nicht vermisst werden“, wendet er sich dann mit einem starken pfälzischen Akzent an mich.

      „Wurde dann vielleicht irgendwas bei Ihnen abgegeben, das mir gehören könnte?“, frage ich, „Handy, Geldbeutel…“

      Doch er schüttelt den Kopf und erstickt meine Hoffnung im Keim. „Hier wurde schon seit über einem Monat nichts mehr abgegeben. Tut mir leid.“

      „Danke trotzdem“, sagt Jakob.

      Erneut verlassen wir einen Ort, von dem ich mir Hilfe erhofft hatte. Und erneut gehen wir mit leeren Händen.

      „Was machen wir jetzt?“, frage ich Jakob, als wir wieder draußen sind. Die Sonne scheint geradezu ironisch vom strahlend blauen Himmel.

      „Weiß nicht. Magst du ein Eis?“

      So war die Frage eigentlich nicht gemeint, doch ich nicke trotzdem. Warum nicht? Jetzt gerade kann ich gut eine kleine Aufmunterung gebrauchen… Wir lassen das Auto stehen und laufen ein Stück.

      „Hey Clara“, meint Jakob plötzlich, „Also wegen dem Gedächtnisverlust… Du musst dir keine Sorgen machen, wo du wohnen kannst, bis deine Erinnerungen zurückkommen. Wir werden dich jetzt nicht rausschmeißen oder so…“

      Ich bleibe stehen und blicke ihn an. Als er es bemerkt, bleibt er ebenfalls stehen.

      „Jakob, das…“ Ich schüttele den Kopf. „Danke, das… Das ist wahnsinnig nett!“ In einer plötzlichen Gefühlsregung umarme ich ihn. Er ist zunächst so überrascht, dass er nicht reagiert, aber nach einem Moment zieht er mich noch näher an sich. Es fühlt sich mehr als gut an – so eine Umarmung hatte ich bitter nötig, nach allem, was seit gestern Abend passiert ist…

      Ich löse mich wieder von ihm und er lächelt mir aufmunternd zu. Wir überqueren die Straße und stehen jetzt vor einer relativ großen Bankfiliale. Davor fließt ein kleiner Bach entlang, an dem einige Menschen sitzen und Eis essen. Wir folgen dem Bachlauf und kommen in eine malerische Gasse mit Fachwerkhäusern und einem Wasserrad. Es sieht geradezu märchenhaft aus.

      „Wow, es ist echt schön hier“, sage ich, während ich mich kaum sattsehen kann.

      Jakob nickt. „Das stimmt. Wenn man schon so lange hier wohnt, verliert man manchmal den Blick dafür…“

      Wir laufen bis ans Ende der Gasse und biegen dann links ab. Vor uns erstreckt sich ein Platz mit Kopfsteinpflaster, an dessen Ende ein Gebäude mit der Aufschrift ‚Rathaus‘ steht. Rechts von uns befindet sich ein runder Brunnen, an dem viele Kinder spielen, und direkt dahinter eine Terrasse, die brechend voll ist. Jakob und ich steigen die wenigen Stufen zur Terrasse nach oben und laufen zum Eingang der Eisdiele. Drinnen herrscht ebenfalls reger Betrieb, und drei Kunden stehen vor uns an der Theke. Zwei Kinder suchen sich gerade ihre Eissorten aus, und ein älterer Mann hinter der Theke reicht ihnen ihre Eiswaffeln. Als er aufblickt, um der Mutter der beiden den Preis zu nennen, bleibt sein Blick an Jakob hängen und er nickt ihm lächelnd zu.

      „Jakob, wie geht’s dir?“, fragt er, als wir kurz darauf dran sind.

      „Hey Matteo, mir geht’s gut, und dir?“, erwidert Jakob.

      „Man kann nicht klagen“, erwidert der Mann mit italienischem Akzent, „Hast du deine Freundin mitgebracht?“ Er deutet auf mich.

      „Eine gute Freundin“, entgegnet Jakob lächelnd.

      Er nimmt eine Kugel Schoko und eine Kugel Straciatella. Ich entscheide mich für Schoko und Erdbeere.

      „Schönen Tag noch, und bis bald!“, verabschiedet sich Matteo von uns, woraufhin wir beide „Danke, gleichfalls!“ erwidern.

      „Du scheinst hier echt jeden zu kennen“, sage ich, als wir wieder draußen sind.

      „Nach 20 Jahren sollte man das auch, oder?“, meint Jakob lachend.

      Wir laufen zurück durch die Gasse mit den Fachwerkhäusern und setzen uns ebenfalls auf eine der Bänke am Rande des kleinen Flusses.

      „Hast du irgendwelche Hobbys?“, frage ich, während ich an meinem Eis schlecke.

      „Ich spiele Fußball“, erwidert er, „Im Verein in Völkersweiler, schon seit ich fünf war.“

      „Das ist eine lange Zeit“, stelle ich fest.

      „Wir haben jeden Samstag ein Spiel. Wenn du willst, kannst du ja mal zuschauen.“

      Ich zögere.

      „Ich würde mich freuen“, meint er dann, was mich schon wieder zum Lächeln bringt.

      „Okay“, sage ich, „Aber nur, wenn du auch ein Tor schießt.“

      „Das dürfte machbar sein“, erwidert Jakob grinsend. Er sieht jünger aus, wenn er lacht, denke ich.

      „Und du bist früher hier zur Schule gegangen?“, frage ich.

      „Ja, genau.“

      „Das muss cool gewesen sein in einer so schönen Stadt…“

      „War’s auch. Aber die Schule