Laura Herges

Wer ist Clara?


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erwidert diese in dem Moment und lächelt ihrem Bruder zu. Doch dieser bleibt stumm und widmet sich lieber wieder seinem Schnitzel.

      „Das Essen schmeckt übrigens fantastisch“, sagt Anna in diesem Moment.

      Mir wird jetzt erst bewusst, dass ich noch keinen Bissen gegessen habe. Schnell schneide ich ein Stück von meinem Schnitzel ab und stecke es mir in den Mund, und danach gleich ein paar Bratkartoffeln.

      „Es schmeckt wirklich super“, sage ich dann an Eva gewandt, die sich mit einem Lächeln bei mir bedankt. Ob sie das mit dem Brief heute Nachmittag wohl schon vergessen hat? Oder vielleicht hofft sie auch nur, dass ich es bereits vergessen habe…

      Die Gespräche am Tisch verstummen auch während des Essens nicht, was vor allem an Anna liegt. Irgendwie schafft sie es, immer im richtigen Moment genau das Richtige zu sagen. Sicher ist das einer der Gründe, warum sie so weit gekommen ist. Es scheint nur einen zu geben, der gegen ihren Charme immun ist: Paul. Wann immer sie etwas sagt, gibt er ihr kurze oder nichtssagende Antworten, und ich frage mich, ob er wohl zu allen so ist. Jedenfalls ist er ganz anders als seine immer freundliche Ehefrau. Ich mag Eva. Aber dennoch kann ich den Brief nicht vergessen.

      Die Zeit vergeht wie im Flug, und nach einer schnellen Dusche, gehe ich zurück ins Gästezimmer, wo ich – wie mir jetzt auffällt – den ganzen Tag noch nicht gewesen bin. Eva hat mir meine Sachen zusammengefaltet aufs Bett gelegt. Ich lege alles beiseite und schlüpfe in den von Johanna geliehenen Schlafanzug. Dann trete ich wieder ans Fenster und blicke nach unten in den Garten. Nichts tut sich. Erleichtert atme ich auf und lasse den Rollladen herunter. Dann laufe ich zu dem Bücherregal am anderen Ende des Zimmers, das mir gestern vor Müdigkeit gar nicht aufgefallen ist. Darin findet sich so ziemlich alles, von romantischem Teenie-Kitsch bis zu blutrünstigen Thrillern. Ich greife nach einem Buch, das mir aufgrund seines schlichten Einbands erst im zweiten Moment auffällt: Les Jeux Sont Faits von Jean-Paul Sartre. Ich weiß ja mittlerweile, dass ich etwas Französisch spreche, bin aber dennoch erleichtert, als ich beim Aufklappen des Buches feststelle, dass es sich hierbei um eine zweisprachige Ausgabe handelt. Ich schaue mir die Inhaltsangabe auf Deutsch an und beschließe, es zu lesen. Ein Mann und eine Frau, die füreinander bestimmt sind, aber frühzeitig den Tod finden, dann aber eine zweite Chance bekommen, auf die Erde zurückzukehren, und beweisen müssen, dass sie zusammengehören – klingt interessant.

      Ich lese die ersten paar Seiten und lösche dann das Licht. Ich bin schon wieder todmüde, der Tag war anstrengend für mich – wenn nicht körperlich, dann auf jeden Fall mental. Die Worte des Doktors kommen mir wieder in den Sinn. Jemand hat mich niedergeschlagen. Ich zucke zusammen, als ich schon kurz vorm Einschlafen bin, und muss tief durchatmen, um mich wieder zu beruhigen.

       Was ist nur in diesem Wald passiert?

      Früher:

      Ich habe meine Eltern noch nie angelogen. Oder zumindest noch nie so, wie ich es jetzt vorhabe.

      Sobald ich den Brief gelesen hatte, wusste ich eigentlich schon, dass ich es tun würde. Auch wenn ich weiß, dass es falsch und vermutlich auch gefährlich ist, muss ich doch herausfinden, wer ihn geschrieben hat. Ob tatsächlich…? Nein, das ist unmöglich. Das kann einfach nicht sein. Warum würde jemand so etwas tun? Warum würde man den Menschen, die man am meisten liebt, so etwas antun?

      Ich versuche, es mir zu erklären, doch dafür gibt es keine Erklärung.

      Jetzt:

      Kapitel 4: Verwirrt

      Als ich am nächsten Tag erwache, brauche ich erneut einen Moment, um zu verstehen, wo ich bin. Erinnerungen – die, die ich habe – schießen mir durch den Kopf und ich drehe mich seufzend auf den Rücken. Ich habe keine Fortschritte gemacht, ich weiß immer noch nicht, wer ich bin.

      Nach ein paar Minuten und einem Blick auf den Wecker, der mir verrät, dass es schon wieder nach zwölf Uhr ist, beschließe ich, dass ich besser aufstehen sollte. Ich ziehe den Rollladen hoch und stelle fest, dass draußen schon wieder schönes Wetter ist: Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, an dem sich ein paar Schäfchenwolken tummeln, und es ist so warm wie gestern. Ich will nicht, dass Jakob mich schon wieder im Schlafanzug sieht, deshalb ziehe ich die kurze Hose von gestern an, sowie meinen eigenen BH und mein eigenes T-Shirt, das sich auf den zweiten Blick als nicht gerade schön entpuppt: Es ist wohl schon älter, der Aufdruck ist verwaschen und der Saum ein wenig ausgefranst. Ich schaue vorher aufs Etikett, in der Hoffnung auf einen Hinweis. Doch es ist schon so verwaschen, dass die Schrift verblasst ist und ich sie nicht länger entziffern kann.

      Nachdem ich im Bad war, gehe ich nach unten. Die Küche ist leer, doch Nutella, Orangensaft und die Packung Toast liegen schon für mich auf dem Tisch, ebenso wie ein Teller, ein Glas und ein Messer. Es rührt mich, wie fürsorglich Jakob ist, auch wenn ich hier so ziemlich der einzige Mensch zu sein scheine, der das wertschätzt – im Gegensatz zu seinen Geschwistern. Ich denke daran, wie Lukas reagiert hat, als sein Bruder ihn gestern nach der Klausur gefragt hat, oder an Johannas ständige Zickereien. Klar, die beiden sind Teenager, aber sie könnten ruhig etwas dankbarer dafür sein, dass Jakob sie dauernd irgendwo hinfährt und wieder abholt. Doch er scheint schon so daran gewöhnt zu sein, dass es ihm gar nicht mehr auffällt…

      Ich stecke zwei Scheiben Toast in den Toaster, dann mache ich mich wieder auf die Suche nach Jakob, was nicht gerade lange dauert. Im Wohnzimmer steht die Tür zur Terrasse offen, und draußen finde ich ihn, wie er in der Sonne sitzt und liest.

      „Hey“, begrüße ich ihn.

      „Hey“, erwidert er mit einem Lächeln und klappt das Buch zu, „Hast du gut geschlafen?“

      „Sehr gut“, entgegne ich, „Wie ein Stein.“

      Er lacht.

      „Was liest du?“, frage ich und setze mich neben ihn auf das kleine Sofa.

      „Macbeth“, erwidert er und reicht mir das Buch.

      „Magst du Shakespeare?“, frage ich.

      „Ja, sehr“, sagt er, „Wir haben in der Schule Hamlet durchgenommen, und seitdem habe ich einige seiner Stücke gelesen.“

      „Vielleicht kannst du’s mir ja mal ausleihen, wenn du fertig bist“, sage ich nach einem Blick auf den Buchrücken.

      „Klar, gern“, erwidert er. Er blickt zur offenen Terrassentür und sagt: „Wenn du willst, kann ich dir drinnen Gesellschaft leisten.“

      „Oder ich dir hier draußen“, sage ich lächelnd.

      „Wenn dir das lieber ist“, entgegnet er ebenfalls lächelnd.

      Ich nicke. „Gib mir nur eine Sekunde.“ Mit diesen Worten erhebe ich mich und gehe zurück in die Küche, wo mein Toast inzwischen fertig ist. Ich bestreiche die beiden Scheiben mit Nutella, schenke mir ein Glas Orangensaft aus und gehe zurück nach draußen. Ich stelle beides auf dem Glastisch neben der Couch ab und setze mich wieder neben Jakob.

      „Ist das dein T-Shirt?“, fragt Jakob.

      Ich schaue noch einmal an mir herunter und nicke. „Deine Mum hat meine Sachen für mich gewaschen. Das wird Johanna sicher freuen…“

      „Sie ist im Moment echt schwierig“, sagt Jakob, „Aber sie meint das nicht so, ehrlich.“

      Er zögert, bevor er fortfährt: „Ich habe das Gefühl, dass sie gerade versucht, sich selbst zu finden. Deshalb auch die dunklen Klamotten und das rebellische Verhalten.“

      Ich lache schnaubend. „Hoffentlich hat sie sich bald gefunden.“

      Doch er beachtet mich gar nicht. „Ich kann sie gut verstehen, bei mir hat es auch lange gedauert, bis ich wusste, was ich will. Und nicht mal jetzt weiß ich, ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg bin…“

      Ich blicke ihn an. „Wie meinst du das?“

      „Na ja, ich werde bald für mindestens ein Semester ins Ausland gehen müssen,