Laura Herges

Wer ist Clara?


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der Wald an mir vorbeiziehen. Ein Ortsschild zeigt einen Moment später, dass wir uns jetzt in Gossersweiler-Stein befinden. Schon wieder.

      „Kommt deine Familie aus dem Ort?“, frage ich.

      „Die meines Vaters ja, meine Mutter kommt aus einem anderen Ort in der Nähe. Der Ort heißt Lug.“

      „L-U-G?“, frage ich. Er nickt.

      „Drei Buchstaben?“ Ich bin verwirrt.

      „Könnte der kürzeste Ortsname in Deutschland sein“, erwidert Jakob lachend. „Ja, die beiden haben sich schon als Jugendliche kennengelernt und sind mittlerweile seit fünfundzwanzig Jahren zusammen.“

      „Krass“, erwidere ich, „Das ist eine echt lange Zeit…“

      „Ja, aber wenn man sich liebt, warum nicht?“

      „Hast du denn eine… Freundin?“, frage ich nach einem Moment des viel zu kurzen Überlegens, und würde gleich danach am liebsten im Boden versinken.

      „Nein“, erwidert er und ich atme innerlich auf. Er wartet ebenfalls einen Moment, bis er weiterspricht: „Ich könnte dich jetzt fragen, ob du einen Freund hast, aber die Antwort darauf kenne ich ja…“

      Ich lache und hoffe, dass er mich nicht gleich anschaut und sieht, wie rot ich geworden bin. Der Gedanke kam mir bisher noch gar nicht. Was, wenn ich einen Freund habe, der mich vermisst? Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals. Wie ist das wohl, wenn man plötzlich weiß, dass man mit jemandem zusammen ist, sich aber an keinen einzigen Moment mit der Person erinnern kann? Ist eine Beziehung dann überhaupt noch möglich?

      Wir biegen in eine kleine Querstraße ein, die so eng ist, dass ich mich frage, wie Jakob es schafft, nicht beide Seitenspiegel abzufahren. Aber er scheint es gar nicht mehr zu bemerken, so oft ist er die Strecke wahrscheinlich schon gefahren…

      Wir halten an einem Haus, dessen hölzerner Balkon mir sofort ins Auge springt. Auf dem Balkon stehen mehrere Gartenstühle, und auf einem davon sitzt ein Mann, der Jakob fröhlich zuwinkt, als dieser aus dem Auto steigt.

      „Hallo, Opa!“, ruft Jakob nach oben. „Hallo!“, rufe auch ich. Dann schließt er die Tür zum Haus auf und wir treten beide ein. Ich fröstele. Im Vergleich zu draußen ist es hier ziemlich frisch. Ich folge Jakob eine Marmortreppe hinauf und trete dann durch eine weitere Tür in einen Raum, der das Esszimmer zu sein scheint.

      Die Tür zum Balkon steht offen und wir gehen nach draußen zu Jakobs Großvater. Dieser sitzt mit seiner Zeitung auf einem Gartenstuhl, trägt ein T-Shirt und eine Jogginghose, und scheint gerade vollkommen entspannt zu sein.

      Jakob wechselt nun wieder in den Pfälzisch-Modus und stellt mich seinem Großvater als eine Freundin vor.

      „Schön, Sie kennen zu lernen“, sage ich. Meine Aussprache scheint ihn zu irritieren, denn er erwidert: „Ebenso, ebenso“, woraufhin Jakob leise und mit amüsiertem Grinsen zu mir sagt: „Ich habe ihn noch nie hochdeutsch reden hören!“

      „Wie war dein Tag, Opa?“, fragt Jakob, immer noch auf pfälzisch.

      „Gut, gut. Ich hab Zeitung gelesen und war im Garten“, entgegnet dieser, nun ebenfalls wieder in seinem Dialekt, „Und du?“

      „Wir waren auch draußen, mit Luchsi“, sagt Jakob, „Und jetzt machen wir dir was Gutes zum Abendessen.“

      „Was gibt’s denn?“, fragt sein Großvater.

      „Selbstgemachte Pizza“, erwidert Jakob.

      „Oh, die esse ich gerne“, sagt sein Opa.

      „Weiß ich doch“, entgegnet Jakob lächelnd. Ich folge ihm in die Küche die, ehrlich gesagt, mal wieder renoviert werden könnte. Die Fliesen sind in diesem komischen Siebziger Jahre-Grün gehalten, und passen nicht gerade gut zu den braunen Fliesen auf dem Boden… Aber immerhin scheinen noch alle Geräte zu funktionieren.

      Jakob holt einige Lebensmittel aus der Kühltasche, die uns Eva mitgegeben hat: Pizzateig, Tomatenmark, eine Paprika, Salamischeiben, frische Champignons und Streukäse.

      „Wir haben Glück, heute ist er gut drauf“, murmelt er, während er alles auf der Ablage ausbreitet.

      „Man merkt ihm gar nicht an, dass er dement ist“, sage ich leise.

      „Jetzt gerade nicht, aber es gibt auch schlechte Tage“, meint Jakob und wäscht sich an der Spüle die Hände. Ich tue es ihm gleich, bevor wir anfangen. Ich schneide die Pilze und die Paprika, während Jakob den Pizzateig ausrollt und mit Tomatenmark bestreicht. Wir sind ein gutes Team, und so haben wir ruck zuck die fertig belegte, und gewürzte Pizza im Ofen.

      „Lust auf noch mehr Kinderbilder von mir und den anderen?“, fragt er lächelnd, nachdem er den Ofendeckel hochgeklappt hat.

      „Aber immer doch“, erwidere ich, und er führt mich ins Wohnzimmer, in dem auf einer Kommode unzählige gerahmte Bilder stehen. Ich erkenne Eva und Paul auf einem alten Hochzeitsbild. Die beiden sehen so jung und glücklich aus; gerade der griesgrämig wirkende Paul ist mit dem breiten Lächeln im Gesicht kaum wieder zu erkennen. Als nächstes fällt mein Blick auf ein Bild eines Jungen in einem schicken Anzug, in dem er sich nicht unbedingt wohlzufühlen scheint. Schüchtern lächelt er in die Kamera.

      „Bist das du?“, frage ich an Jakob gewandt und deute auf das Bild. Eigentlich ist es eine rhetorische Frage: Seine mittlerweile markanter gewordenen Gesichtszüge sind auf dem Foto noch weich und kindlich, aber dennoch habe ich ihn sofort an den dunkeln Augen erkannt.

      Er nickt. „Das war an meiner Konfirmation – ist schon eine ganze Weile her…“

      Er deutet auf ein anderes Bild, das eine ältere Frau zeigt, die auf einer Wiese sitzt, auf ihrem Schoß ein Baby, und neben ihr zwei kleine Jungs, die fröhlich in die Kamera lachen.

      „Das ist mein Lieblingsbild“, sagt er.

      „Deine Oma?“, frage ich.

      Er nickt. „Sie ist leider vor ein paar Jahren gestorben. Seitdem kommt jeden Tag einer von uns her, um sich um Opa zu kümmern.“

      „Das tut mir leid“, murmele ich und spiele einen Moment lang mit dem Gedanken, seine Hand zu nehmen, lasse es dann aber doch lieber.

      „Ist schon gut. Die Erinnerungen an sie werden wir für immer haben.“

      Wir bleiben noch ein paar Minuten stehen und Jakob erklärt mir, wo und wann ein paar Bilder aufgenommen wurden. Dann setzen wir uns nach draußen zu seinem Großvater.

      „Wie heißt du noch mal?“, fragt dieser mich mit einem so starken Akzent, dass Jakob für mich übersetzen muss.

      „Clara“, erwidere ich dann.

      „Und du wohnst in Völkersweiler?“ Er spricht das Wort ‚Völkersweiler‘ dabei wie ‚Velgeschweiler‘ aus, sodass mir erst bewusst wird, was er meint, als Jakob antwortet: „Ja, sie wohnt in Völkersweiler.“

      „Es gab schon einmal eine Clara in Völkersweiler“, meint Jakobs Großvater plötzlich.

      „Wirklich?“, frage ich, doch Jakob winkt nur ab. Sicher redet sein Opa öfters wirres Zeug, wenn die Krankheit schon fortgeschritten ist…

      „Ja, aber das ist schon lange her“, meint er und blickt in den Himmel. Plötzlich scheint er ganz abwesend zu sein.

      „Ich glaube, wir sollten dann mal die Pizza aus dem Ofen holen“, sagt Jakob und steht auf.

      Während er die Pizza holt, decke ich den Tisch für uns drei. Schon verrückt: Ich kenne diesen Jungen erst seit zwei Tagen, und jetzt sitze ich hier und esse mit ihm und seinem Opa zu Abend. Ich kann dennoch nicht sagen, dass es sich schlecht anfühlt, eher im Gegenteil: Es kommt mir so vor, als würden wir uns schon viel länger kennen.

      Jakob bringt die Pizza aus der Küche und schneidet sie für seinen Opa in kleine Stücke, sodass dieser es nicht selbst tun muss. Die Geste rührt mich. Es tut mir leid, dass Jakob und