Laura Herges

Wer ist Clara?


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      „Klar“, erwidere ich und stehe auf, auch um ein paar mehr Zentimeter zwischen mich und den Hund zu bringen. So ganz geheuer ist der mir nämlich immer noch nicht…

      Bevor wir gehen, schlüpfe ich in meine eigenen, mittlerweile ebenfalls gewaschenen Schuhe und wir treten nach draußen. Es ist wieder angenehm warm, genauso wie gestern, die Sonne scheint, und eine leichte Brise weht über uns hinweg.

      Wir laufen dieses Mal nicht in Richtung des Waldes, aus dem ich gekommen bin, sondern einen anderen Hügel hinauf, der von Feldern gesäumt wird und später ebenfalls in den Wald führt. Der Wald scheint hier allgegenwärtig zu sein, es dauert immer nur ein paar Minuten, bis man dort ist, und er scheint teilweise so dicht zu sein, dass man sich leicht darin verlieren könnte. Noch immer frage ich mich, wie ich vor zwei Tagen ganz alleine den Weg hinaus gefunden habe…

      Luchsi scheint heute ganz besonders aufgedreht zu sein, sie zieht ungeduldig an der Leine, sodass Jakob letztendlich doch nachgibt: Erneut entfernen wir uns vom Weg, dieses Mal allerdings nur, um in einem der Felder weiterzulaufen. Das Korn ist bereits geschnitten worden, sodass es einfach ist, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

      Jakob hat Luchsi von der Leine losgemacht, und sie sprintet sofort los, nur um kurz darauf mit einem Stock im Maul zu ihm zurückzukehren.

      Die Prozedur wiederholt er ein paar Mal, bevor wir weiterlaufen. Nach einer Weile sind wir wieder im Wald und kommen an einem eingezäunten Gelände vorbei.

      „Das da drüben ist der Reiterhof“, sagt Jakob, während wir uns nach links wenden. Der Waldrand befindet sich rechts von uns, wenige Meter davor steht eine kleine Kapelle. Doch wir laufen weiter auf der linken Seite, die von Feldern und Wiesen gesäumt wird. Plötzlich sehe ich wie aus dem Nichts zwei weitere Häuser vor uns auftauchen.

      Ich bin ein wenig überrascht, dachte ich doch, hier oben würde niemand mehr wohnen. Ebenso überraschend ist die Tatsache, dass die Häuser vielleicht hundert Meter auseinander stehen, aber dennoch kaum unterschiedlicher sein könnten: Das erste Haus ist klein und so heruntergekommen, dass es schon lange verlassen zu sein scheint. Das andere Haus hingegen ist groß und neu, das sieht man auf den ersten Blick. Es ist fast ebenso groß wie das Haus der Sommers, aber moderner, mit einem Wintergarten, riesigen Fenstern und… kann ich da oben, auf dem Dach, etwa einen Pool erkennen?

      „Das ist Annas Haus“, sagt Jakob und deutet auf die Villa.

      „Das?“ Ich bin stehen geblieben und starre ihn entgeistert an.

      „Ja. Ist noch gar nicht sooo lange her, dass sie hier eingezogen ist. Drei Jahre vielleicht? Auf jeden Fall, bevor sie Bürgermeisterin wurde…“

      „Oh mein Gott, deine Tante muss extrem reich sein!“, stoße ich hervor.

      „Sie… verdient ziemlich gut mit ihrer Baufirma“, meint Jakob.

      „Das kann ich mir vorstellen“, erwidere ich, „Sie muss so hart für all das gearbeitet haben…“

      „Oh ja, das hat sie wirklich. Umso cooler ist es, dass sie so auf dem Boden geblieben ist“, sagt er.

      „Das stimmt, sie wirkt wirklich sehr nett“, entgegne ich und betrachte noch einmal das Haus, als plötzlich ein Geräusch aus dem anderen Haus ertönt. Ich zucke erschrocken zusammen, dachte ich doch, es wäre unbewohnt. Auf einmal öffnet sich die hölzerne Eingangstür, die gerade noch so in den Angeln zu hängen scheint. Luchsi stößt ein Knurren aus und ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit.

      Aus der entstandenen Öffnung tritt ein Mann, der uns wütend anschaut und auch gleich darauf zu schreien beginnt. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als ich seine Stimme höre. Sie ist heiser und laut und seine Worte klingen schon beinahe wie eine Art Beschwörung, was sicher auch an dem manischen Blick seiner hellen Augen liegt. Ich verstehe kein Wort, vermutlich weil seine Sprache von einer Kombination aus Lallen und dem stärksten pfälzischen Akzent, den ich bisher gehört habe, geprägt ist. Luchsi fängt an zu bellen, während der Mann immer weiter schreit. Er kommt immer näher auf uns zu und ich sehe, wie fertig er aussieht: Seine Kleidung ist schmutzig und zerschlissen, seine Haltung gebückt und seine braunen Haare und der Bart ein einziges Durcheinander. Zunächst bin ich vor Schreck wie gelähmt, doch als er uns immer näher kommt, weiche ich erschrocken zurück und sehe gleichzeitig geschockt, wie Jakob sich schützend vor mich stellt.

      „Das reicht jetzt!“, schreit er plötzlich, und ich zucke erneut zusammen. Ich hätte nicht gedacht, dass er seine Stimme erheben würde. Auch Luchsi ist verstummt.

      „Lass uns in Ruhe, Eddie! Verschwinde!“

      Das Gesicht des Manns verzerrt sich erneut zu einer wütenden Fratze, und ich habe schreckliche Angst davor, was als nächstes passieren wird. Er setzt zu einer Antwort an, und ich sehe, wie Jakobs Körper sich noch mehr anspannt, doch dann fällt der Blick des Mannes plötzlich auf mich. Er erstarrt in seiner Bewegung und die vor Wut zusammengekniffenen Augen weiten sich auf einmal. Sein Mund steht weit offen und er fixiert mich mit einem derart intensiven Blick, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Im nächsten Moment dringt erneut ein Schrei aus seiner Kehle, doch dieser Schrei ist anders: Er formt keine Worte, sondern brüllt einfach nur, ein einziges angsteinflößendes Geräusch. Und dann rennt er los, zurück in sein Haus.

      „Los, lass uns verschwinden!“, sagt Jakob in dem Moment. Ich sehe in seinem Gesicht, dass er ebenfalls Angst hat.

      Wir nehmen die Beine in die Hand und rennen zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Ich halte nicht an, bis wir zurück auf dem Weg sind, der auf beiden Seiten von Feldern gesäumt wird, und auch dann bleibe ich nur stehen, weil Jakob es tut. Luchsi hat die ganze Zeit gebellt, bis gerade eben.

      „Was war das?“, stoße ich mit brennender Lunge hervor.

      „Keine Ahnung“, erwidert Jakob kopfschüttelnd, während auch er nach Atem ringt. „Der Typ ist schon immer total gestört, aber so… so habe ich ihn noch nie erlebt.“

      Ich kann immer noch kaum fassen, was gerade passiert ist. „Wer war das?“, frage ich atemlos.

      „Der verrückte Eddie“, entgegnet er, und nach einer kurzen Atempause fährt er fort: „In jedem Dorf gibt es einen Verrückten. Und das ist der von Völkersweiler.“

      „Mein Gott, Jakob“, stoße ich hervor, „Ich… ich hatte solche Angst um dich!“ Erst jetzt spüre ich, dass ich am ganzen Körper zittere. Jakob sieht mich an. Der Blick seiner dunklen Augen ist unergründlich.

      „Hey, komm her“, murmelt er dann und zieht mich an sich.

      Erst jetzt, in seiner Umarmung, verliere ich die Anspannung von eben und erlaube mir, durchzuatmen. Ich ziehe ihn ebenfalls an mich und atme tief durch.

      „Es tut mir so leid, dass das passiert ist“, sagt er dicht neben meinem Ohr. Ich löse mich wieder soweit von ihm, dass ich in sein Gesicht blicken kann.

      „Ich habe den Kerl auch noch nie so erlebt, das musst du mir glauben. Sonst wären wir nie dort lang gelaufen.“

      Ich nicke. „Und wie ist er dann normalerweise“, frage ich mit gesenktem Blick.

      „Er motzt einen schon mal an, wenn man sich zu laut unterhält und dabei vor seinem Haus steht. Aber ansonsten ist er harmlos, ehrlich.“ Jakob seufzt. „Sollen wir zurück nach Hause gehen?“

      Ich nicke und muss schlucken. Der erste Schreck hat sich gelegt, aber meine Knie zittern immer noch.

      „Okay, dann los“, meint er, und erst jetzt merke ich, dass ich mich immer noch an ihm festhalte. Schnell lasse ich ihn los und hoffe, dass er nicht bemerkt, wie mir das Blut in die Wangen schießt.

      Wir schweigen auf dem gesamten Weg, und nicht mal Luchsi gibt einen Ton von sich. Sie scheint zu spüren, wie angespannt unsere Stimmung ist.

      „Kann ich dich was fragen?“, breche ich das Schweigen, nachdem Jakob die Haustür aufgeschlossen hat.

      „Schieß los“, sagt er, während wir unsere