Laura Herges

Wer ist Clara?


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Ich frage ihn mal, ob wir ihn abholen sollen.“

      Er tippt schnell eine Nachricht in sein Handy und lässt es dann wieder in seiner Hosentasche verschwinden.

      Wir schweigen für einen Moment und ich schaue den Kindern zu, die im Wasser spielen und jauchzend am Ufer entlangrennen. Ich beneide sie für ihre Unbeschwertheit, und meine Gedanken wandern wieder zu der Wunde an meinem Hinterkopf, die mich vor ein scheinbar unlösbares Rätsel stellt. Doch bevor ich darüber nachdenken kann, piept Jakobs Handy, und er holt es wieder aus seiner Hosentasche.

      „Lukas hat geschrieben, dass seine letzte Stunde gerade vorbei ist.“

      Mit diesen Worten erhebt er sich. Schade, ich wäre gerne noch eine Weile mit ihm dort geblieben…

      Wir fahren durch die kleine Stadt, und ich schaue durchs Fenster und sehe hin und wieder Menschen, die sich wie wir ein Eis gönnen, Einkaufstaschen tragen oder die offensichtlich gerade von der Schule kommen. An einer Ampel biegen wir rechts ab und kommen kurz darauf an einem Park vorbei. Die Straße führt jetzt steil bergauf und uns kommen immer mehr Schüler entgegen. Die Häuser weichen Bäumen und ehe ich mich versehe, sind wir scheinbar mitten im Wald.

      „Sind wir hier wirklich richtig?“, frage ich zögernd.

      „Wieso? Weil es so abgelegen ist?“, entgegnet Jakob lachend, „Ja, das ist ein bisschen nervig, wenn man eine Freistunde hat und hier festsitzt, aber die Ruhe ist eigentlich auch ganz nett.“

      Wir biegen um eine scharfe Rechtskurve und jetzt kann ich tatsächlich mehrere Schulgebäude erkennen: Eins ist weiß gestrichen, das andere aus Sandstein; beide sehen modern aus. Vor den Gebäuden befindet sich eine Verkehrsinsel, um die Jakob herumfährt. Eine Gruppe Jugendlicher steht bei einer Tischtennisplatte wenige Meter entfernt. Jetzt sehe ich auch das Haltestellenschild neben ihnen. Sie warten hier also alle auf den Bus. Jakob lässt die Scheibe auf meiner Seite herunter, beugt sich ein Stück rüber und ruft: „Hey Lukas, spring rein!“

      Jetzt sehe ich, wie Lukas sich aus der Gruppe löst, begleitet vom Tuscheln und dem verschämten Kichern mehrerer Mädchen, die ganz klar in Richtung Jakob starren. Lukas verdreht genervt die Augen, während er um den Wagen herumläuft. Das Tuscheln intensiviert sich, als Jakob aussteigt und den Sitz vorklappt, sodass Lukas sich auf die Rückbank setzen kann.

      Manche recken sogar die Hälse, als wir losfahren. Ich weiß nicht, ob Jakob es nicht bemerkt hat, oder ob er es einfach nur ignoriert, weil er es gewohnt ist, aber Lukas ist es definitiv aufgefallen. Und es scheint tatsächlich öfters vorzukommen, so genervt wie er gewirkt hat.

      „Und, wie war dein Tag?“, fragt Jakob, während wir den Berg hinunter fahren. Er spricht Pfälzisch, und ich höre interessiert zu und versuche, mir ein paar Wörter, die sich vom Hochdeutschen unterscheiden, zu merken. Jakob hat das T in ‚Tag‘ mehr wie ein D ausgesprochen, und das ‚G‘ wie ein ‚Ch‘, aber das Wort war langgezogen, sodass es sich nicht wie ‚Dach‘ anhört.

      „Wie immer“, entgegnet Lukas.

      „Hast du Englisch zurückgekriegt?“, fragt Jakob nach einem Moment des Schweigens.

      „Nö“, erwidert Lukas genervt.

      „Ich bin mir sicher, dass es dieses Mal gut lief, wir haben so viel zusammen gelernt…“

      Lukas seufzt. „Ja, Mama, ich sag dir Bescheid, sobald ich die Arbeit zurückkriege.“

      Ich schaue zu Jakob und sehe, wie er sich auf die Unterlippe beißt. Es versetzt mir einen kleinen Stich.

      „Wir waren beim Arzt und bei der Polizei“, sage ich schnell, um das Thema zu wechseln und drehe mich zu Lukas um.

      „Und?“, fragt er, nun schon ein wenig interessierter.

      „Nichts“, entgegne ich, „Niemand sucht bisher nach mir. Aber der Arzt hat gesagt, dass ich wohl einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, und deshalb mein Gedächtnis verloren habe.“

      „Oh, krass“, meint Lukas, „Wer könnte das gemacht haben?“

      „Keine Ahnung“, erwidere ich, „Aber immerhin hat er gesagt, dass die Erinnerungen bald zurückkommen werden – spätestens in ein paar Wochen.“

      „Wir sollten unsere Eltern fragen, ob du solange bei uns wohnen kannst“, meint Lukas.

      Ich schlucke hart. Was, wenn die Eltern der beiden das nicht wollen? Wo kann ich denn schon wohnen, ohne Geld und ohne Identität?

      Jakob muss meine plötzliche Anspannung bemerkt haben, denn er legt seine Hand auf meine.

      Überrascht schaue ich ihn an, doch sein Blick ruht auf der Straße. Wir stehen an einer Kreuzung und er wartet, bis kein Auto kommt. Seine Hand ist groß und warm.

      „Keine Angst“, sagt er mit ruhiger Stimme, „Du kannst bei uns bleiben, da bin ich mir sicher.“

      Nun ist die Straße frei und er nimmt seine Hand wieder von meiner, doch das Gefühl der Wärme bleibt noch für einen Moment und verdrängt die Angst, die ich eben noch empfunden habe. Ich atme aus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich die Luft angehalten hatte.

      Jakob klang so überzeugt, dass ich mir tatsächlich fast keine Sorgen mehr mache. Stattdessen bin ich immer noch etwas verwirrt wegen eben.

      Für den Rest der Fahrt redet niemand mehr. Jakob dreht das Radio etwas lauter, um die Stille zu übertönen. Es war angenehmer, als wir noch allein waren.

      Ich schaue nach draußen und bin immer noch erstaunt darüber, von wie viel Wald sowohl Völkersweiler als auch Annweiler umgeben sind. Die Landschaft ist wirklich schön, aber gleichzeitig verängstigt sie mich auch, weil ich gestern eben aus genau diesem Wald gekommen bin, ohne Erinnerungen an mein altes Leben. Jetzt bin ich Clara, ein Mädchen mit einem Namen und sonst nichts.

      Erneut fällt mir auf, wie schön und wie groß das Haus der Sommers ist, als wir dort ankommen. Jakob schließt das Auto ab, nimmt einen Stapel Briefe und Prospekte aus dem Briefkasten und schließt die Haustür auf.

      „Jakob?“, fragt eine Stimme aus der Küche.

      „Ja“, erwidert er, während wir drei unsere Schuhe ausziehen und dann in die Küche gehen, wo seine Mutter gerade Kartoffeln schält.

      „Sind das Johannas Sachen?“, fragt sie, als sie mich sieht.

      „Sie hatte nichts anderes“, erwidert Jakob an meiner Stelle.

      „Steht dir gut“, erwidert sie schulterzuckend, „Johanna zieht das eh nicht mehr an.“

      Erneut fällt mir auf, dass ihr Hochdeutsch im Gegensatz zu dem von Jakob und Lukas doch ein wenig von ihrem pfälzischen Akzent gefärbt ist. Ich finde es charmant.

      „Was gibt’s Neues?“, fragt sie, während sie sich die Hände an einem Geschirrtuch abwischt, Jakob die Briefe aus der Hand nimmt und sie durchsieht. Ihr Haar hat die gleiche Farbe wie das von Lukas. Sein Bruder scheint eher nach seinem Vater zu kommen.

      „Leider nichts Gutes“, entgegnet er.

      „Der Arzt hat gesagt, dass ich einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen habe und mein Gedächtnis vielleicht erst in ein paar Wochen zurückkommt“, sage ich.

      Sie hält inne und blickt mich erschrocken an. „Ein Schlag? Aber wer tut denn sowas?“

      „Keine Ahnung“, erwidere ich und senke meinen Blick.

      „Kann Clara denn solange bei uns bleiben?“, fragt Jakob.

      „Aber natürlich, das ist doch gar keine Frage!“, erwidert seine Mutter sofort.

      Ich blicke auf und sehe, dass Jakob mir aufmunternd zulächelt, wie um zu sagen: „Siehst du, ich hab’s doch gewusst!“

      „Danke“, sage ich nun an seine Mutter gewandt, „Das ist wirklich wahnsinnig nett. Sobald ich wieder weiß, wer ich bin und wo ich mein Konto habe, werde ich euch Geld geben, für die Miete und…“

      Doch