Isabella Kniest

Love's Direction


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kam der Augenblick, dann musste man loslassen. Loslassen von all dem Irdischen, dem Fleischlichen, dem Bedeutungslosen. Dann, in dieser letzten Stunde des Todes, begannen viele zu bereuen – die unversuchten Dinge, die unversöhnten Streitigkeiten, die nicht genutzten Chancen.

      Ich will leben – in zweierlei Hinsicht –, dies wurde ihm immer wieder geklagt.

      Aber was bedeutete zu leben?

      Highlife? Über die Stränge zu schlagen, zu prassen, zu feiern? Jede freie Sekunde außer Haus zu verbringen, um ja nichts zu verpassen?

      Bullshit!

      Ein bewusstes Leben gab dir mehr, als tausend Partys oder falsche Freunde und Luxuskarossen. Ein bewusstes Leben im Sinne von Genuss, Akzeptanz, Dankbarkeit, Demütigkeit und Understatement. Kein iPhone der Welt, kein Bentley, keine Rolex, kein Maßanzug schenkte dir Liebe, Zufriedenheit, Gesundheit und Geborgenheit. Erst wenn das Gewöhnliche, das Alltägliche, das Selbstverständliche zu etwas Besonderem, Schätzbarem wurde, lebte man.

      Geschmeidig sprang Tracey über fünf Steinstufen hinab zum Lendkanal, zapfte sämtliche Energien an und sprintete die letzten zwei Kilometer Richtung Wohnung zurück. Anschließend genehmigte er sich eine kurze heiße Dusche und ein englisches Frühstück. Doch kein Moment verging, und die ihm in die Knie zwingenden Fragen begannen ihn abermalig zu geißeln, zu unterdrücken, zu zermalmen: Verliere ich meine Arbeit? Muss ich in den Knast? Wie viel Strafe werde ich zahlen müssen? Wenn die Gerichtsverhandlung vorüber ist, wird noch irgendjemand etwas mit mir zu tun haben wollen?

      Und ebenso oft geisterte der Anblick der Pussywagon-Fahrerin durch seinen kruden Verstand.

      War seine Wut in den ersten drei Tagen noch grenzenlos gewesen, schlug dieser Umstand allmählich in Neugier um. Wer war diese Frau, die einerseits bewundernswerte Selbstsicherheit an den Tag legte, andererseits völlig hilflos und unischer wirken konnte?

      Solch harte Gegensätze – vereint in einer Persönlichkeit.

      Er trank sein Glas mit Orangensaft aus, packte seine dunkelblaue Trainingstasche, zog sich Turnschuhe an und machte sich auf den Weg zum Fitnesscenter.

      Zwei Stunden gelang es ihm, seinen Kopf abzuschalten und sich auszupowern. Jedoch bedurfte es bloß einen Schritt aus dem quadratischen Objekt mit der überheblichen ›Fitness for all! – gestalte dein Leben vitaler!‹-Aufschrift und die wunderhübsche rothaarige Frau mit den intensiven blauen Augen schlich sich zurück in sein Bewusstsein.

      Wenngleich er es absolut nicht wollte, entwickelt er Sympathie für sie. Und zwei Tage später musste er sich eingestehen: Sie lag im Recht.

      Er hatte auf sie einschlagen wollen, er hatte sein Ego über die StVO erheben wollen, er hatte die Nerven verloren.

      Was war da mit ihm los gewesen?

      Nahezu pausenlos grübelte er über diesen Vorfall, seinen Aussetzer und die daraus resultierende Begegnung. Und zu welchem Stolz ankratzenden Ergebnis brachte es ihn? Niemals hätte er auf diese beschämende, asoziale Weise reagiert, hätte das Mädchen nicht eine derart große äußerliche Ähnlichkeit zu seiner verschissenen Ex aufgewiesen! Dies wiederum verdeutlichte ihm: Sein Chef hatte ebenfalls recht. Er hatte vollumfänglich und über die Maßen irrational und gemeingefährdend gehandelt.

      Aber was brachte es schon zu grübeln und sich schuldig zu fühlen? Weder konnte er seine Tat gutmachen noch die Zeit zurückdrehen.

      Es war geschehen.

      Genauso wie es geschah, dass er sich immer öfter fragte, wie das Zusammentreffen mit dieser rothaarigen Schönheit vonstattengegangen wäre, hätten sie sich in einem Lokal, bei einem Spaziergang, im Kino oder im Fitnessklub begegnet.

      Zum Teufel!

      Wohin drifteten seine ziellosen Gedanken ab?

      Außer Atem erhob er sich vom dunklen Parkettboden seiner Zwei-Zimmer-Wohnung.

      Sein Herz raste, seine Muskeln schmerzten.

      Wie viele Push-ups hatte er absolviert?

      Er war sich nicht mehr sicher. Lediglich eines wusste er: nicht genug, um sein verfluchtes rastloses Gehirn abzuschalten und Ruhe zu finden! Und diese vermaledeite Frau zu vergessen, ihren betörenden Blick zu vergessen, dieses Gefühl zu vergessen, diese Einigkeit zu vergessen …

      Verfickt noch einmal!

      Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, von einer fremden Frau jemals auf eine solche intensive Weise angesehen worden zu sein. Freilich, in der Vergangenheit hatte er einige selbstbewusste und ebensoviele schüchterne Damen kennengelernt – sie dagegen spielte in einer völlig anderen Liga.

      Tracey atmete stoßweise tief durch, dann fing er mit Kniebeugen an. Sein Blick aus dem Fenster gerichtet, welches ihm die ewig deprimierende Aussicht auf die angrenzenden Wohnblöcke zeigte, deren abblätternden ockerfarbenen Außenfassaden eher an eine russische Siedlung aus den Achtzigern erinnerten als an einen modernen Vorort Klagenfurts des einundzwanzigsten Jahrhunderts, zogen seine Gedanken weitaus größere Kreise.

      Läge diese Frau in seinen Armen, würde sie ihn auf dieselbe verbindende Weise betrachten?

      Wie sähe sie ihn an, wenn sie sich ihm hingäbe?

      Seine letzte Freundin hatte einen unaussprechlich erregenden Gesichtsausdruck gezeigt, wenn sie miteinander intim geworden waren. Insbesondere, wenn er sie mit seinen Händen verwöhnt hatte.

      …

      Im Augenblick der höchsten Lust, würde sie ihre Augenbrauen wölben oder senken, die Lider schließen oder minimal angehoben halten?

      Welch Wunder läge in ihren tiefblauen Augen, wenn er in sie eindrang – Zentimeter um Zentimeter, ihr zierliches Becken fest in seinen Händen haltend, ihre schlanken Beine um seine Hüften geschlossen?

      Wie fühlte sie sich an?

      Ihr ekstatischer, glühender, nasser Unterleib … ihre Brüste, deren Knospen sich ihm hart entgegenstreckten?

      Harmonische Stöße … seelenverschmelzende Küsse … ihr nackter Oberkörper an seinen gepresst …

      Er hielt inne.

      …

      Himmel, Arsch! Verfickt noch einmal!

      Sie hatte ihn angezeigt!

      Vermutlich würde er sie allerhöchstens in der Gerichtsverhandlung antreffen – und er dachte an ungezügelten Sex mit ihr?!

      Es wurde tagtäglich schlimmer mit ihm!

      Wohin würde sein Geisteszustand ihn noch führen?

      4. Der Apfel der Erkenntnis

      Tracey hatte sich eben an die auf Hochglanz polierte dunkle Bar seines Stammlokals gesetzt und ein aromatisiertes Mineralwasser – in diesem Fall Johannisbeergeschmack – bestellt, da tauchte ein ihm zu vertrautes Gesicht auf.

      »Na, wen sehen meine entzündeten Augen da?«, posaunte eine, wie üblich, gut gelaunte Steffi quer durch den stickig-vernebelten Raum.

      »Ich bin nicht in Stimmung«, wehrte er prophylaktisch ab. »Versuch es erst gar nicht.«

      Was auch immer du versuchen willst, vervollständigte er gedanklich und nahm einen großen Schluck.

      »Hast du Probleme?«

      Er schielte sie aus zusammengezogenen Augenbrauen an. »Was glaubst du wohl?«

      Seine beste Freundin schnippte mit den Fingern. »Ach natürlich! Die Sache mit der Körperverletzung, Nötigung und … was war da noch?«

      »Gefährdung der körperlichen Sicherheit«, vervollständigte er ihren Bericht deprimiert, verzweifelt und gefrustet.

      »Ganz genau.« Fröhlich-beschwingt setzte sie sich zu ihm, bestellte einen weißen Spritzer und plapperte munter weiter. »Wie, zur Hölle, kannst du derart ausflippen?«