Bernd Oei

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer


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wie „unter der Oberfläche seines Bewußtseins“ oder: „Denn der ewige Wind weht über das Meer, ja es scheint, daß aus dem Meer selbst ein Wind kommt, ein Wind aus den Tiefen des Wassers.69

      Das Spiel mit den Elementen erzeugt den archaischen Rückgriff auf den aus Lehm und Wasser geformten Golem. Das Meer ist gleichzeitig Rätsel der Schöpfung als auch zum Selbst. Seine Wellen sind Anfang, Zugang und Ende der Zeit.

      Seine erste Reise führt Nissan von Odessa nach Petersburg. Dabei interagieren Farben mit dem Meer. Die Farbe Rot hat die Funktion eines abwesenden Gottes: die ganz roten Korallen sind selten, doch rote Perlen existieren nicht Weil das Meer alles ist, deckt es sämtliche Farben ab: „Das Schwarze Meer ist gar nicht schwarz. In der Ferne ist es blauer als der Himmel, in der Nähe ist es grün wie eine Wiese.“

      Seine Nichtzugehörigkeit zum Kommunismus verkündet der farbliche Kontrast: „Vor der strahlenden weißgoldenen Pracht des Offiziers nimmt er die schwarze Mütze ab, und seine roten geringelten Haare flattern im Wind. Judentum rot, Revolution rot.” Rot wird folglich auch zum Symbol jüdischen Blutes.

      Zwei Ereignisse verdeutlichen dem Korallenhändler, dass er seine Heimat verlassen und seiner Bestimmung, über das weite Meer zu fahren, folgen muss. Der Tod seiner kranken Frau, den er als Erleichterung empfindet – es fällt nicht schwer, diesen Gedanken biografisch zu deuten, da Frederike Roth unheilbar krank für den Schriftsteller zu einer enormen Belastung geworden ist – und das Ausbleiben von Kundschaft, die sich alle für die künstliche Pracht der Konkurrenz entscheiden, bilden den Auslöser für seinen Exodus.

      Das Schiff, auf dem er untergeht, heißt bezeichnenderweise Phönix. Der Tod findet ihn weder überrascht noch ist er Nissan unwillkommen, denn er kehrt heim zum Meeresgrund, als sei es die Rückkehr zum verlorenen Paradies.

      Der Tod der Ehefrau, die auf spiegelglatten Eis vor dem Haus stürzt und sich eine Gehirnerschütterung zuzieht, wird mystifiziert: „Kein Mensch hatte gewünscht, daß sie am Leben bleibe, und also war sie auch gestorben.“

      Rätsel oder Geheimnisse unter der Oberfläche durchziehen die legendenhafte Erzählung. So führt die mangelnde Lebensfreude von Nissens Frau, bedingt durch die Lieblosigkeit ihres Gatten, der sich an den Korallen mehr erfreut als an ihrer Nähe, zu ihrem Tod. Einzelne Elemente der Erzählung wie die schmelzenden Eiszapfen im Frühling, schmetternden Lerchen und quakende Frösche erinnern an Das falsche Gewicht, andere wie der Kampf mit dem Teufel, gegen Zins und Geldwucher an Hiob, Raben und Kastanien als Todesboten an Radetzkymarsch („dunkelgrünen Schatten der Kastanien“) und Die Kapuzinergruft. So entsteht dadurch eine Grundmelodie biblische Musik.

      Der topografische Vergleich von Häusern mit Schiffen und der Weite des Meeres mit Landschaften verbindet seelische Beheimatung und Drang nach Flucht.70 Menschliche globale Heimat ist der Himmel für Roth. Entwurzelung und Sehnsucht nach Rück- oder Heimkehr bedingen sich immer wechselseitig. „So hat sich Roth in seinem epischen Werk eine verlorene Heimat wieder geschaffen, etwa jenes in jedem Detail so lebenswahre, lebensträchtige Österreich-Ungarn, … so bevölkerte er mit dem Personal seines Lebens seine Romane und Geschichten und lebte auch mit seinen erfundenen Figuren wiederum, als wären sie Komparsen seines eigenen Lebens.“71

      Zweifel an der Identität und der Selbstverständlichkeit der naturgemäßen oder göttlichen Ordnung spiegelt sich in allen Werken, doch im Leviathan besonders komprimiert. Die Erzählweise Roths ist grundsätzlich von der Perspektive der Auswanderer, Flüchtlinge oder Kriegsheimkehrer getragen; sie vereint mitunter das vermeintlich Unvereinbare wie Rastlosigkeit und Geborgenheit, Verlust und Gewinn von Freiheit.72 Deshalb nennt Arthur Zimmermann in der Neuen Züricher Zeitung (Ausgabe 7./8.März 1992) auch einen „unbehausten Grenzgänger“, der Traum und Alp ineinander überführt, wenn Nissan sich den Tod durch Ertrinken ersehnt. Der Leviathan ist eine Figur aus dem Alten Testament, der Sünder auf dem Meeresgrund verschlingt.

      2. 6. 1. Entstehung und Inhalt

      Die letzte Geschichte, die Roth testamentarisch hinterlässt, erscheint im Amsterdamer Verlag Allert de Lange 1939 posthum Paris bietet Topographie für Teilhandlungen vieler Romane Roths, darunter Napoleon und die Hundert Tage, Flucht ohne Ende oder Beichte eines Mörders, zuletzt bietet es die Kulisse die Legende des heiligen Trinkers. Zudem hat er seit 1925 als Auslandskorrespondent auf eigenen Wunsch in der Stadt an der Seine gearbeitet und die letzten glücklichen Tage an der Seite seiner Frau vor Ausbruch ihrer Schizophrenie verlebt. Der prosaische Beginn ist typisch, weil symbolisch und mit Zeit- und Ortsangabe verbunden: „An einem Frühlingsabend des Jahres 1934 stieg ein Herr gesetzten Alters die steinernen Stufen hinunter, die von einer der Brücken über die Seine zu deren Ufern führen.“73

      Das Gesicht seiner Zeit zeichnend, erzeugt Roth auch sein eigenes, das eines unrettbaren Säufers. Zum zweiten Mal nach Die Rebellion heißt der Protagonist Andreas; er ist jedoch als Alter Ego ein resignierter Trinker, der dennoch ein Mann von Ehre sein will. Als ihm ein Fremder, in dem man das Gott erkennt, Geld leiht, will er dieses zurückerstatten, was misslingen muss, weil er trinkt und sein Leben von Zufällen gesteuert wird.

      Während Roth nach seinem Kollaps in das Armenspital Necker eingeliefert wird, wo er nach vier Tagen an einer Lungenentzündung bei progressiver Leberzirrhose qualvoll stirbt, erfährt Andreas in der Kirche ein sanftes Ableben: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!“

      Über fünfzehn Kapitel erzählt Roth die Geschichte eines liebenswerten Alkoholikers, der um eine geprügelte Frau zu schützen, getötet und seine Schuld nie überwunden hat. Auch dieses Detail erinnert an den Autor selbst, der wesentliche Züge biografisch in seine Legende einschreibt, darunter die Herkunft Aus Osteuropa. Dass er sich schuldig an der Ohnmacht gegenüber der kranken Frau gefühlt und für seine rasende Eifersucht schämt, dokumentiert seine Selbstaussage lautet: „Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen.“74

      Im ersten Kapitel erhält der verwahrloste Andreas Kartak unter einer Brücke Geld aus der Hand eines Fremden, mit dem Hinweis, er möge es sonntags der heiligen Theresia in der Kirche Sainte Marie des Batignolles zurückgeben. Der Ort bezeichnet ein Stadtviertel, das zu Roths Zeiten vorwiegend Künstlern vorbehalten und, vergleichbar mit Montmartre heute, äußerst populär ist. In der Kirche gedenkt man den von der heiligen Theresia gelehrte kleinen Weg: die Armut des Menschen, der vor Gott mit leeren Händen steht zu erkennen, der sich von ihm alles schenken lassen muss. Darum soll jeder seinem Nächsten gegenüber milde und freigiebig auftreten. Nach seiner Konvertierung zum Katholizismus, den Roth 1934 als symbolisches Bekenntnis zur Donaumonarchie versteht, trägt er selbst ein Medaillon der Theresia mit sich.

      Im zweiten Kapitel steigt Andreas die Treppen hinauf; er hat durch dieses Wunder, die Geldgabe des Fremden, eine zweite Chance erhalten. Wenig später (3) steigt eine Verkäuferin die Leiter hinauf, um ihm eine günstige Brieftasche aus dem Regal zu holen, die Andreas sich erbittet, um das geliehene Geld dort sorgfältig zu verwahren. Der erste Wendepunkt erfolgt prompt.

      Am Sonntag, auf dem Weg zur Kirche, holt ihn die Vergangenheit in Gestalt von Karolina ein, seiner einstigen Freundin, für die er getötet hat. Er verpasst den Kirchengang und verbringt den Tag und die folgende Nacht mit ihr. Am nächsten Morgen geht der Emigrant aus Olschowice, dem polnischen Schlesien, in ein Lokal und trinkt aus Kummer über sein Versäumnis (5).

      Er träumt von der heiligen Therese, die traurig darüber ist, dass er nicht zu ihr gekommen ist (6) und findet auf wundersame Weise in der Brieftasche tausend Francs, ein Vielfaches von dem Betrag, den er zurückerstatten muss.

      Als er in einem Lokal davon zwanzig vertrinkt, erkennt er auf dem Plakat eines Fußballspielers seinen einstigen Klassenkameraden wieder (7). Er spürt den Prominenten auf, der sich über das Wiedersehen ebenso freut wie er und ihm nebst Anzug ein gemietetes Zimmer als Geschenk überlässt (8).