Bernd Oei

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer


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Geht etwas nicht nach ihrem Willen zerstört sie das Leben ihres Mannes. Die Grundüberzeugung des Frauenarztes ist, dass hinter jeder kranken Frau ein unerfüllter Wunsch steht.

      Die Diagnose lautet auf Bandwurm; die Patientin findet darin die Entschuldigung für all ihre Launen; sie trinkt und betrügt ihren Mann mit dem perfiden Tänzer Lakatos. Der Ingenieur verdrängt und verschweigt, aus Diskretion, aber auch, weil er weiß, dass indiskrete Geständnisse Freundschaften zerstören. Der Krieg forciert eine lange Trennung der beiden Ehepartner. Anstelle sie in eine Klinik zu geben, pflegt er sie als Co-Abgängiger zu Hause und überschreitet dabei seine Grenzen. Am Ende erkrankt tötet er sich aus Eifersucht und Einsicht über seine Lebenslüge, die einen Narren aus ihm gemacht hat. Gwendolin hingegen gesundet und tanzt mit Lakatos aus Budapest fröhlich durchs Leben.

      2. 3. 2. Bedeutung der Musik

      Der aus Galizien stammende Frauenarzt Skowronnek berichtet dem Icherzähler von seinen Anfängen aus seiner Praxis, damit ihm dieser glaubt: „Unheilbarer Selbstmörder sind die Männer ganz bestimmter kranker Frauen … Wer sich selbst töten will, den kann man nicht retten.“61 Er befreundet sich mit einem gebildeten charmanten und gesunden jungen Mann mit angeborener Noblesse. Aus Briefen ist zu entnehmen, dass Roths Sichtweise sich weitgehend mit der Skowronneks deckt und sich als Plebejer empfindet: „Ehrgeizig ist nur der Plebejer. Der wirklich noble Mensch ist anonym. Ehrgeiz ist … eine Eigenschaft des Plebejers. Er hat keine Zeit. Er kann nicht erwarten, zu Ehre, Ansehen, Ruhm zu gelangen. Der noble Mensch aber hat Zeit zu warten, ja sogar zurückzustehen.“ Der falsche Ehrgeiz bringt den Mann dazu, erst zu verdrängen und dann seine Frau anstelle sich selbst retten zu wollen.

      Von Anfang an nimmt Musik eine Schlüsselfunktion ein. Nur eine bestimmte Musik öffnet das Herz des jungen Mannes, ansonsten schweigt auch er, um niemanden zu belasten. Musikgeschmack klingt in mehreren Erzählungen Roths an, zumal er selbst leidlich gut Geige spielt. Mit der Redewendung die Geige hoch drückt er gute Stimmung aus, mit die Geige tief die Depression.

      Über die Musik glaubt Skowronnek den Humor, den Takt, das Feingefühl eines Menschen zu erkennen. Die Psychopathin Gwendolin „liebte Wagner. Er beschimpfte ihn. Nichts konnte einen Musiker seiner Art – und auch meiner Art – so sehr reizen wie ein Wohlgefallen an Wagner ... musikalische Menschen könnte man in zwei feindliche Gruppen teilen: in Mozart-Liebhaber und Wagner-Anhänger. Merken Sie, daß ich nicht einmal Wagner-Liebhaber mehr sagen kann? Ich sage: Anhänger. Menschen mit Ohren für Posaunen und Kesselpauken – und Menschen mit Ohren für Cello, Geige und Flöte ... Eher werden sich zwei Taubstumme verständigen als zwei musikalische Menschen ...“

      Das Wagnermotiv repräsentiert den Faschismus und eine kranke Mentalität bzw. Geisteshaltung; mit der britischen Passivität gegenüber der aggressiven Politik assoziiert Roth eine internationale Verbreitung des Größenwahns und eine geopolitische Zuordnung. Seine mythische Überzeugung besteht darin, Wagnerianer mit Kriegsbefürworter gleichzusetzen. Der noble Mensch hat feinere Ohren. Roths Ablehnung Wagners folgt Nietzsches Streitschrift Der Fall Wagner. Über Roths Ablehnung besteht kein Zweifel: „Und nun brachte ich meinem Freund ein unerhörtes Opfer ... Ich spielte ... Wagner!... Den Pilgerchor ... Wagner ist ein großer Meister, sagte sie, als wir fertig waren. Ja. Gnädige Frau! Als Heilmittel für kranke Damen ist er unübertrefflich.“62

      Wagner, Totalität, Trunkenheit des Verstandes und die blonde Bestie sind für Roth identisch. Außerdem redet er sich erfolgreich an, Gwendolin sei die Frau seiner Träume – er will auf beiden Augen blind und beiden Ohren taub sein. Der Krieg forciert eine lange Trennung der beiden Ehepartner. „Frau Gwendolin ... schien ihr Vaterland, das feindliche England, ihre Abstammung vergessen zu haben. Die äußerst bunte Männlichkeit der österreichisch-ungarischen Armee hatte wahrscheinlich jedes Gefühl für England in ihrem schönen Busen ausgelöscht ... Liebe allein bestimmt die Haltung der Frauen.“

      Als ihr Betrug und Alkoholkonsum nicht mehr zu kaschieren sind, flieht sie in die (vorgetäuschte) Krankheit. Skowronnek rät seinem Freund, sie in eine Klinik zu geben, aber stattdessen muss er, seinem inneren Zwang und Schuldgefühl folgend, die Dame rund um die Uhr betreuen. „Der Irrsinn der Welt ist stärker als der gesunde Menschenverstand, die Bosheit ist mächtiger als die Güte.“

      Die Krankheit der herrschsüchtigen und egozentrischen Frau, mehr noch die ihres kultivierten Gatten, repräsentieren zwei politische Symptome der Zeit: Faschismus und Pseudo-Liberalismus.

      Lakatos ist als diabolischer Kleinbürger gezeichnet, „ein Typus, keine Persönlichkeit“ Nur scheinbar triumphiert die genesende Gwendolin: „Noch ein Jährchen, noch zwei“, prophezeit der Arzt und „verbittert sinkt ihr bald ins Grab und noch tiefer, in die Hölle.“ Der Triumph ihrer äußeren Schönheit bleibt nicht von Dauer und stiftet auch Rausch des Vergessens.

      Roths Erzählungen sind moralisch, ohne zu moralisieren. Kern bleibt immer das Seelenbeben, das nach Erlösung oder Heimkehr strebt, was mythologisch dasselbe ist, denn schon Platons Seelenlehre formuliert, dass Erkennen ein Wiedererkennen (anamnesis) beinhaltet. Im Phaidon lehrt er, dass dem Wirklichen nur die Idee des Schönen anhaftet und die Weisheit mit zunehmender Teilhabe an der entstofflichten Idee zunimmt. Roths Erzählung formt das Unsichtbare, das Reich der Fantasie und Spiegel zum Innenleben, das wahre Seelenschöne, über die das Äußere hinwegtäuscht. Geheimnis und Fantasie gleichen einem Schlüssel zur Heimkehr in das verlorene Ich. In der wirklichen Welt plagt sich der gespaltene Mensch mit Einsamkeit und mit der Frage, wer er eigentlich ist. Das romantische Konzept der Vervollkommnung durch kongeniale Ergänzung sieht der Autor als gescheitertes Experiment an, da es nur in Abhängigkeit führt und die Selbständigkeit verhindert.

      Viele Erzählungen Roths thematisieren den Leib-Seele Dualismus und das Ineinandergreifen von utopischen Denken (Mystik) mit der realen Handlungsebene. Die meisten seiner Charaktere haben zwei nicht kompatible Seiten, die sie im Inneren spalten. Die Geschichte thematisiert die Genealogie zweier Anomalien („Hysterie ist ansteckender als Typhus“), mit welcher die Frau besser umzugehen versteht als ihr Ehemann, der in einen autodestruktiven Sog gerät. Der tragische Ausgang fast aller Roth basiert auf die Unrettbarkeit des Ich, den Untergang seiner geistigen Heimat und den Triumph der politischen Apokalypse, die er im Antichrist bezeichnet.

      2. 4. 1. Entstehung und Inhalt

      Die in sieben Kapiteln gegliederte Novelle von etwas über zwanzig Seiten entsteht im Anschluss an Triumph der Schönheit im Dezember 1934 und erscheint wie diese im Sommer 1935 im Pariser Tageblatt unter dem Titel Le buste de l'empereur. Die deutschsprachige Erstveröffentlichung findet gleichfalls in der ersten Gesamtausgabe von Kiepenheuer & Witsch in Köln 1964 statt.

      Handlungsort ist Ostgalizien zwischen Lemberg und Brody, wo ein Miniatur-Kaiser, der gutherzige und monarchietreue Graf Franz Xaver Morstin für Recht und Ordnung sorgt. Er repräsentiert Transnationalität der k. u. k. Monarchie. Als Dank für seine Gastfreundschaft während eines Manövers erhält Morstin eine Büste des Kaisers, die er wie eine Reliquie verehrt und während des Krieges vor den Russen im Keller versteckt. Nach Kriegsende entrüstet ihn eine billige Kabarettnummer, die den Kaiser verunglimpft und ein Imitat der Stephaniekrone entweiht, so dass er die Büste wieder aufstellt. Als ein polnischer Verwaltungsbeamter daran Anstoß nimmt, findet ein rituelles Begräbnis der Skulptur statt. Mrostin verlässt seine Heimat und sieht seinem Tod an der italienischen Riviera entgegen, will aber nahe seiner Büste begraben werden.

      Eine Lesart besteht darin, die Geschichte als Parabel und eine andere, sie als Legende zu lesen. Als Parabel repräsentiert sie die Heimatlosigkeit des Grafen, der ohnehin unterschiedliche genetische Wurzeln besitzt, die aber die Frage seiner Identität nie berühren, da er sich als Diener der Monarchie, als Bürger eines Reiches und im Herzen als Österreicher fühlt. Folglich beginnt seine Odyssee mit dem Ende der Habsburger-Regierung, weil sie mehr ist als ein Apparat: ein Vaterland und eine Religion. Als Legende reflektiert betont Die Büste des Kaisers, was Roth die ironische Ungläubigkeit der mutmaßlichen Stützen im Reich