Bernd Oei

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer


Скачать книгу

alle anderen Fragen nach dem Wert des Lebens aus einem unbedingten Ja zu ihm hervorgehen. Wer das eigene Leben töten darf, kann keine Gründe mehr finden, fremdes uneingeschränkt zu schützen. Es bedarf Selbstwert und Demut für den ganzheitlichen Menschen; die Mehrheit aber zieht Brot der Freiheit und Hass dem Frieden vor.

      Kulturbewusstsein der Skepsis

      Fünf Punkte sind markant für den Zeitgeist zwischen zwei Weltkriegen. Zunächst politisch die militärische Verwüstung des Reiches im Herzen Europas, das in kleine Nationalstaaten zerfällt, den Austrofaschismus und das Dritte Deutsche Reich zeitigt. Dieser erweist sich als das unheilvolle Erbe der Vergangenheit mit seinen ungelösten Konflikten wie der Balkankrise. Das Ende einer Ära widerspiegelt am eindrücklichsten der Niedergang der Familie Trotta.

      Zweitens religiös: der irreversible Bruch (der Tod Gottes) mit der Tradition eines tief gläubigen Glaubens, potenziert Zweifel und familiären Zerfall. Das vermeintliche Ende der Metaphysik veranschaulicht Hiob am eindrucksvoll.

      Drittens: Die durch den Nihilismus ausgelöste Wertekrise untergräbt das Vertrauen in humanistische Traditionen, führt zur Orientierungslosigkeit und Radikalisierung. Die metaphysische Obdachlosigkeit der Entwurzelten zeitigt Rechtsextremisten wie Theodor Lose in Das Spinnennetz, desillusionierte Revolutionäre wie Friedrich Kargan in Der stumme Prophet oder psychopathische Narzissten wie Golubtschik in Beichte eines Mörders.

      Viertens: Die Gesellschaft spaltet sich zunehmen in Positivisten oder Anhängern der Neuen Sachlichkeit und irrationalen Weltverschwörungstheorien wie Militarismus und Faschismus. Reaktionen auf die Enttäuschungen über die Republik bieten Utopien und Mystik bzw. Reaktivierung von Katholizismus und Gnosis. Autodestruktive Strukturen verdeutlichen Tarabas und Eibenschütz in Das falsche Gewicht.

      Fünftens: Der intrinsische Zusammenhang von Heimatlosigkeit sowohl geografischer, familiärer als auch ideologischer Art, Entfremdung bzw. Fremdsein, paradoxale Sehnsucht und Erlösungsfantasie mit kollektiver Bereitschaft zum Untergang zeitigt keine Helden, sondern impassibilité - ein Begriff Flauberts für die Teilnahmslosigkeit und Resignation des Subjekts gegenüber der Veränderbarkeit der Welt. Da der Gestaltungswille, der Wille zum Leben dysfunktional bleibt, pervertiert er in zunehmende Zerstörungslust und Selbstverleugnung: im besten Fall bleibt das Subjekt ein „unbeteiligter Beobachter eines Schiffsunterganges“ (Metapher Blumenberg) wie Franz Tunda in Flucht ohne Ende.

      Roth bezeichnet die Suche nach Werten „hinter dem Zaun“ als eine nach greifbarer Wirklichkeit und Objektivität. Zu Beginn wendet er sich von der Sentimentalität der Romantik, dem Individualismus und der Melancholie ab. Nachdem ihm vorübergehend Sozialismus, Neue Sachlichkeit und der Existenzialismus Lösungen bieten, bricht Roth mit ihnen, bedingt durch ihre Wehrlosigkeit in der Weimarer Republik. Es bleibt ihm die Flucht zurück. Die verlorene Jugend und Heimat sind Ausgangspunkt zur einer Verwurzelung, welche die Orientierungslosigkeit auffangen soll. Am Ende steht eine utopische Flucht in Träume und Sucht, Folge einer als Ausweglosigkeit empfundenen: „Ich wurde eines Tages Journalist aus Verzweiflung über die vollkommene Unfähigkeit aller Berufe, mich auszufüllen… Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen … Nur wir, nur unsere Generation, erlebte das Erdbeben, nachdem sie mit der vollständigen Sicherheit der Erde seit der Geburt gerechnet hatte.“40

      Der noch relativ junge Roth benennt hier in der Provence, in die er 1933 flieht, bereits wörtlich, den Gegenstand seines Spätwerks. Als Journalist ist er Chronist, Prophet und Kritiker seiner Zeit: „Wir sind die Söhne. Wir haben die Relativität der Nomenklatur und selbst die der Dinge erlebt. In einer einzigen Minute, die uns vom Tode trennte, brachen wir mit der ganzen Tradition, mit der Sprache, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst: mit dem ganzen Kulturbewusstsein. In einer einzigen Minute wußten wir mehr von der Wahrheit als alle Wahrheitssucher der Welt. Wir sind die auferstandenen Toten. Wir kommen, mit der ganzen Weisheit des Jenseits beladen, wieder herab zu den ahnungslosen Irdischen. Wir haben die Skepsis der metaphysischen Weisheit.“

      Roth versucht, sich „hinter dem Zaun der Metaphysik wiederzufinden – vergeblich. Der Text „Die weißen Städte", als Vorwort für einen Roman gedacht, impliziert inmitten der um sich greifenden Finsternis einen Lichtblick, den der zunehmend resignierende Autor im französischen Modell der Dritten Republik (1870-1940) erkennt. Der Bericht drückt das Krisenbewusstsein der Kriegsgeneration im Jahrzehnt nach dem nicht überwundenen Schock des Weltkriegs aus.

      Am 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, verlässt Roth Deutschland für immer. Sein Brief an Stefan Zweig dokumentiert Weitsicht: „Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“41

      Das menschliche Ende Roths datiert auf den Juli 1936, als der schwere Alkoholiker Roth auf Einladung Zweigs nach Ostende reist, wo er der in der Emigration lebenden Schriftstellerin Irmgard Keun begegnet. Beide berauschen sich an einander wie zwei Ertrinkende. „Da hatte ich das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung, und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram. Später verwischte sich der Eindruck, denn Roth war damals nicht nur traurig, sondern auch der beste und lebendigste Hasser.42 Ausdruck dieser Beziehung liefert Beichte eines Mörders

      Zwei literarische Phasen

      Frühphase(1916-1929)

      Roth wird in eine Zeit der großen Umbrüche und des religiösen Nihilismus Ende des 19. Jahrhunderts hineingeboren. Vierzehn Jahre ist er, als Schnitzlers Der Weg ins Freie erscheint als literarische Antwort auf Turgenjews Väter und Söhne und Resümee einer Entwicklung, die nicht mehr aufzuhalten ist.

      In seinem galizischen Heimatort Brody wächst Roth mit Denkern der westeuropäischen Aufklärung Seite an Seite mit orthodoxen Glaubenstraditionen der Ostjuden auf. Skeptischer Rationalismus und gläubiger Traditionalismus; ein kultureller Schmelztiegel prägen seine Biografie. Die Suche nach einem festen Standpunkt bildet ein Lebensthema von Beginn an. Die Forschung differenziert den sozialistisch „roten Joseph" und den katholischen bzw. jüdischen „schwarzen Roth“. Wie der Biotop, in dem er aufwächst, trägt der Autor mehrere widersprüchliche Teile in sich, die koexistieren und sich anfänglich befruchten. Sozialismus ist Religion für das Diesseits, Traum vom irdischen Paradies, der zunehmend mit Gewalt eingefordert wird. Glaube ist die Wissenschaft vom Jenseits, der sich zunehmend aus der Wirklichkeit zurückzieht. Die Folge, jedenfalls bei Roth, ist der Anspruch auf eine wahre Legende.

      Der Widerspruch zwischen sozialen und religiösen Bekenntnissen veranlasst diverse Literaturkritiker zu der Vermutung, Roth habe um 1930 mit Hiob eine radikale und unwiederbringliche Wandlung vom Sozialisten zum konservativen Denken vollzogen. Obwohl sich gerade am Romanwerk Indizien für einen Schwerpunktverlagerung aufzeigen lassen, muss die Diagnose des großen Bruchs in Roths Leben nicht stimmen.

      Vielmehr gewinnt Roth für den aufmerksamen Leser Konturen, in der Zweifel und Hoffnung, Empörung und Resignation alternieren. Es gibt keine Sicherheit, weshalb sollte ein intelligenter Mensch darum an einem Versprechen, gleich welcher Art, festhalten? Er führt das Leben eines Entwurzelten von Anfang an. Seine letzte Erzählung Die Legende vom Heiligen Trinker manifestiert neben biografischen Bezügen, dass selbst innerer Wandel und sichtbar äußeres Verhalten nicht kongruent verlaufen müssen. Andreas ändert sich und bleibt sich dennoch treu; er bewahrt sich seine Menschlichkeit,