Bernd Oei

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer


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durch Institutionen, zunächst Institutionen des Königtums, monopolisiert.

      Verflochten ist dieser Prozess mit zunehmender sozioökonomischer Funktionsteilung. Das Gewaltmonopol des Staates erlaubt es den Menschen nun, langfristig zu planen, da der Kampf nicht mehr notwendig und auch nicht mehr legitim ist. Von einer Ubiquität der Macht kommt es also im Verlaufe der Soziogenese zu einer „Macht-Enteignung“ der Einzelnen. Die eigene Gewaltanwendung ist nicht mehr legitim und konkurriert mit der Gewaltanwendung des Staates. Die unberechtigte Aneignung von Gewalt wird fortan sanktioniert. Nicht die Zivilisation ist das eigentlich fest Bestehende, sondern der sich verändernde Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen individueller Selbstregulierungen im Zusammenleben mit anderen Menschen.

      Wenn „Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln“ und sich der Mensch zunehmend nur über traditionelle Konventionen und Rituale definiert, ist die Peripetie erreicht. Die Habsburger Dynastie ist eine ausgeprägte Kulissenmonarchie mit größtmöglicher ethnischer Heterogenität aufweist. Hier kommt dem Schuld- und Schamgefühlen besondere Bedeutung zu, wie die Regelung des „gesamten Trieblebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird.“30

      Zivilisation folgt einer Struktur, aber keinen rationalen Logik. Die Vernünftigkeit liegt vielmehr in dem Freiraum, der zu einer größeren Planbarkeit privater Handlungen führt. Für Elias bestimmt eine fundamentale dynamische Verflechtungsordnung den Gang des geschichtlichen Wandels. „Sie ist es, die Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander. … daß sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat.“

      Diese Verflechtung folgt einer Eigengesetzlichkeit, ist nicht strukturlos; weder rational noch irrational. Elias Theorie findet sich in Roths Beschreibung, einer Mischung aus präziser äußerer Beobachtungen und Magie durch mythologische Komponenten wieder, die Roths Zeitgenosse Cassirer31„Weltwahrnehmung des mythischen Bewußtseins“ heißt.

      Zivilisation ist für ein äußerst fragiles und fragwürdiges, ambivalentes Gebilde, aufgrund der Unter der differenzierten und stabilen Habsburger Erziehung werden dem Einzelnen mehr und mehr Automatismus angezüchtet - ein Selbstzwang internalisiert, zu dem Gehorsam und Pflichtgefühl gegenüber dem Vaterland und kollektive Werte primär gehören.

      Rousseau und Nietzsche betrachten diese Kulturleistung als „Zucht des Kopfes“ kritisch, da sie eine Verformung des Leibes inkludiert, denn Leitkulturen fördern sowohl kognitive als auch emotionale Störungen Menschen und erziehen zum uneigenständigen Herdentier. Roth kennt das Argument der Verzärtelung der „blonden Bestie“, die Dekadenz begünstigt. Der Mensch stumpft ab. Roths geschichtliche Adaption des Untergangs besteht darum aus einer Mischung von selbsterfüllender Prophezeiung und Nostalgie. Die Folgen der Umorientierung, verbunden mit Konfliktausbrüchen, welche die Monarchie noch zu unterdrücken verstand, empfindet er als traumatisch. Elias These, Monopolisierung und Stabilisierung führen zu „befriedeten Räumen“ muss Roth angesichts der gewaltverherrlichenden Diktaturen zu einer nachträglichen Akzeptanz der Habsburgerdynastie bewogen haben.

      Exkurs Schnitzler und die Rebellion gegen die Metaphysik

      Roth bezeichnet seine Literatur als „Aufstand gegen die Metaphysik“. Viele Dichter aus den Kreisen des Impressionismus und der Sezession gelangen in der Erkenntnis solcher Defizite in der modernen Gesellschaft, die als Krankheit und Verfallssymptome begriffen werden, früher oder später zu religiösen Fragestellungen oder auch religiösen Antworten: Von Schopenhauer und Nietzsche beeinflusste Autoren suchen Zuflucht in der Mystik, so auch Hugo von Hofmannsthals Jedermann (1911) und das Salzburger Mysterienspiel. Vor der Revolution steht immer das Warten. Heinrich Mann bringt dies in Ein Zeitalter wird besichtigt pointiert zum Ausdruck: Die einen drängen zur Herrschaft, „die andere Vorkriegserscheinung ist das Warten“. So lautet eine Szene in Tollers Drama Masse Mensch (1919) „Im Wartesaal“.

      Nach der Zerschlagung des letzten Reiches, das transnational auf Religion und Personenkult vertraut, ist eine Rückkehr zum naiven Gottesvertrauen unmöglich. Arthur Schnitzler artikuliert den Vertreter des modernen Zeitgeists durch Heinrich Beermann im Roman „Der Weg ins Freie" (1908): „Und was die Religionen anbelangte, so ließ er sich christliche und jüdische Legenden so gut gefallen als hellenische und indische; aber jede war ihm gleich unerträglich und widerlich, wenn sie ihm ihre Dogmen aufzudrängen suchte. Und zusammengehörig fühlte er sich mit niemandem, nein, mit niemandem auf der Welt. Mit den weinenden Juden in Basel gerade so wenig als mit den grölenden Alldeutschen im österreichischen Parlament.“32

      Doktor Stauber, noch der älteren Generation angehörig, äußert seine Vermutung, dass moralische Grundwerte seit jeher einen schweren Kampf gegen den genuinen Egoismus des Menschen geführt haben, der nun, entfesselt durch die Autonomie des Menschen und die modernen Ideen entschieden scheint: „ … wissen Sie, in der Epoche, aus der ich eben komme, wo die Begriffe so unwiderruflich festgestanden sind, wo jeder zum Beispiel genau gewußt hat: man hat seine Eltern zu verehren, sonst ist man ein Schuft, schon damals haben die so genannten modernen Ideen mehr Anhänger gehabt, als man ahnt. Nur, daß es diese Anhänger selbst manchmal nicht recht gewußt, daß sie selber ihren Ideen nicht getraut, daß sie sich gewissermaßen wie Auswürflinge oder gar wie Verbrecher vorgekommen sind. "

      Die Politiker der neuen Zeit wechseln Meinungen und Parteien wie ihre Kleidung, Volksvertreter sind gewissenlos und gebärden sich wie Verbrecher. Ihr Handeln nimmt dank der Massenvernichtungsmaschinerie eine ungeheure Reichweite an und potenziert die Quantität. Eine Folge bildet die bürokratische Verwaltung des Sterbens, die Schnitzler im Drama Professor Bernhardi (1912) aufgreift. Liegt der Schwerpunkt noch auf der Radikalisierung von Ideen, so reflektiert Schnitzler in seiner Komödie Fink und Fliederbusch (1917) dagegen die Austauschbarkeit der Ideale.

      Ein Reporter, der unter zwei Pseudonymen für zwei Konkurrenzblätter schreibt (eines für die Republik und eines für die Monarchie) pointiert die groteske Situation, die ihn dazu nötigt, sich selbst zum Duell zu fordern. In Professor Bernhardi kollidieren klerikale, nationale und liberale Interessen tragisch, da niemand philanthropisch handelt. Mit Ausbruch des Weltkrieges hat die Absenz von Moral komödiantisch obsiegt.

      Seit der Französischen Revolution tritt der Staat als Götze oder Leviathan auf. Der Träger der letzten Krone Franz Joseph beruft sich noch (glaubhaft) auf Gottes Gnadentum, er ist der letzte Kitt seines zerbrechenden Reiches. Roths Fragen kreisen um einen Himmel, der keinen Schatten mehr wirft, weil ihm die Sonne fehlt: Wer ersetzt ihn? Wer füllt das ethische Vakuum? Wirtschaft und konstitutionelle Politik sind bereits enger miteinander verwoben als während des Nepotismus an den Höfen der Könige.

      Als Schnitzler resigniert, ist Roth noch ein junger Mann. Keine zehn Jahre später sind seine Ideen, seine Hoffnungen passé, perdu. Der Erbadel des Blutes sieht sich von der Geldaristokratie entmachtet, das Bürgertum und die Industrialisierung haben ihre Götzen Effizienz und Mammon getauft. Nicht nur Religion ist Opium, auch Aktien und Börsenkurs narkotisieren ethische Substanz.

      Bis 1924 schreibt Roth für das Berliner Börsenblatt, bis er es aus ethischen Gründen verlässt. Er ahnt durch die Fusion von Militär, Wirtschaft und Politik das Scheitern der Dreiteilung der Gewalt in der Weimarer Republik. Skrupellosen Intriganten bereiten einen Rechtsputsch vor, den Regierungsvertreter dulden, mitunter fördern (Das Spinnennetz). Dem Ausbruch des ersten Weltkriegs folgt einer Automatisierung, bei der eine Schraube in die andere greift und der

      in den Zweiten Weltkrieg mündet.

      Finis Austriae. Wer trägt Schuld am Untergang? Mit zunehmenden Nationalismus erweisen sich ständisch geprägte Gesellschaften instabil, besonders die k. u. k. Monarchie. Nach dem ersten Weltkrieg, in den viele Schriftsteller in somnambuler