Bernd Oei

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer


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ihrer Dekadenz liegen in der gescheiterten Märzrevolution, in der erzkonservativen Unterdrückung dessen, was sich Bahn brechen muss: dem Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Jean Bodins Begriff der Souveränität ist über 300 Jahre alt, als Roth geboren wird. Auch Rousseaus Traktat „Über den Ursprung der Ungleichheit der Menschen“26- Roth bezeichnet sich während seiner „roten Phase“ als Rousseauisten bezeichnet - skizziert eine modernere Regierungsform als die der apostolischen Majestät.

      Bolschewisten führen im kriegsgeschädigten Russland eine Revolution herbei, doch die Sache der Arbeiter, der Rechts- und Besitzlosen vertretende Partei stürzt das Volk in einen Bürgerkrieg und anschließend Tausende in Tod oder Verbannung. Im Westen fühlt sich das Bürgertum, das den Adel zu verdrängen begonnen hat, von beiden Seiten bedroht: von der Despotie als auch der Demokratie. Die Menschlichkeit wird dem ökonomischen Vorteil geopfert.

      Sittliche Forderungen, wie sie einst die Religion und im aufgeklärten Vernunftbegriff Kants konstituieren, sehen sich auf dem Müllplatz der Geschichte entsorgt. Alles prostituiert sich. Die Abende werden länger, die Röcke kürzer: „Ich habe wirklich vornehme und in der Tat kurzsichtige Damen gekannt, die eine ganz besondere, nahezu verschämte Art hatten, das Lorgnon zu gebrauchen, so etwa, wie es ihre ganz besondere Art war, die Röcke zu heben.“27

      Wissenschaftliche Entdeckungen und technische Neuerungen treiben die Welt in rasender Tollheit voran, doch die soziale Frage und die ethische Entwicklung stagniert, teilweise wird sie rückläufig. Dialektik des Stillstands.

      Die Suche der Philosophen nach Weltanschauungen, um den naturwissenschaftlichen Gesetzen metaphysisches (und falsches) Gewicht zu verleihen bleibt vergebens. Nichts ist mehr sicher, selbst die Sprache nicht: „Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.“28

      Der Nihilismus - alle Werte gelten nichts oder gleichviel – triumphiert über Konventionen. Eine unüberbrückbare Kluft herrscht zwischen Väter und Söhnen, die Turgenjew nur andeutet, aber nicht in ihrem Ausmaß zu erkennen vermag. Immer mehr Menschen töten im Namen der Freiheit, morden mit guter Absicht, im festen Vertrauen, Gott und Vaterland einen Dienst zu erweisen.

      Vordergründig emanzipiert sich der Mensch über den Nihilismus, denn er fördert das Ziel vollständiger Aufklärung und Befreiung aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“, wie Kant formuliert. Die Emanzipation vom tradierten jüdisch - christlichen Gottesbild, die in die Negation Gottes, in Atheismus und, wie Dostojewski zeigt, Fanatismus mündet, hat zur Folge, dass Normen, Werte, ein Sittengesetz neu definiert werden müssen. Humane Evolution tritt an die Stelle technischer Revolution. Pofane Autorität lässt sich durch ethische Postulate kaum restaurieren. Vom Kapitalismus entseelt wird das Ich „entkernt“, die anonyme Gesellschaft, die „Masse Mensch“ siegt. Es verwundert kaum, dass Roth sich mit Ernst Toller intensiv verbunden fühlt und darüber verzweifelt, wie der Riss in einer radikalisierenden Gesellschaft wächst. Im Gestaltungsprinzip Stirb und Werde obsiegt vor allem das Sterben. Im Angesicht des Kahlschlags der Geschichte gilt Kierkegaards Erkenntnis mehr denn ja: Wir können das Leben nur rückwärts verstehen, leben müssen wir es vorwärts.

      Exkurs: Norbert Elias, Die Bedeutung des Rituals

      In zahlreichen Erzählungen nimmt Roth Bezug auf das höfische Etikett wie in der Schilderung des Begräbnisaktes in Seine k. u. k. apostolische Majestät, um über das soziale Gefüge und das Selbstverständnis Menschen zu berichten. Dies hat einen tieferen Grund: den Wert des Respektes, der durch Höflichkeit sichtbar gemacht wird und die symbolische Gemeinschaft, die eine Zeremonie zum Ausdruck bringt. Der Soziologe Norbert Elias29 postuliert in Über den Prozeß der Zivilisation eine Theorie der Norm unter Einbezug des langfristigen Wandels der Persönlichkeitsstrukturen in Westeuropa zwischen 800 bis 1900.

      Der erste Band behandelt die Psychogenese der modernen Persönlichkeitsstruktur, die er in drei Stadien einteilt: die mittelalterliche courtoisie, die höfische civilité und die neuzeitliche civilisation. Der zweiten Band liefert eine Soziogenese über drei Prozessstadien: Feudalisierung, Monopolisierung von Machtmitteln und der Vergesellschaftung dieser Monopole.

      Wie alle sozialen Prozesse bleibt auch der Zivilisierungsprozess zwar gerichtet, aber irreversibel mit „Entzivilisierungsschüben“. Das Subjekt gehört mehreren Zivilisationen an, so weiß es nicht Bin ich ein Mensch oder ein Wiener? Roth fühlt sich als Österreicher und als Jude. Nur im Mikroskop (Biotop) erlaubt sich das Individuum noch Individualität.

      Ebenso verlaufen parallel Individual- und Herdeninstinkt als Teile des Verhaltens. Die zunehmende Kluft zwischen erlebter und erzählter Zeit und das Erkennen historischer Zusammenhänge setzen einen Schrumpfungsprozess des Verstehens in Gang. Ausgehend von den narzisstischen Kränkungen durch Marx, Nietzsche und Freud manifestiert sich die Erkenntnis: weder Materie, noch Geist oder Seele sind frei, sondern unterliegt ökonomischen Gesetzen.

      Als empirische Basis für dieses Modell dienen Elias neben Geschichtswerken und historischen Biographien Bücher über angemessene Manieren und Verhalten mit den jeweiligen Anforderungen und Romane, welche Konventionen ihrer Zeit widerspiegeln. Die Anforderungen werden im Verlauf der Zivilisationsgeschichte immer höher. Frühere Ansprüche oder Pflichten verschwinden nicht, sondern werden durch Verinnerlichung und Gewöhnung nicht mehr als solche erkannt. Sie gelten als normal und bleiben kritisch unreflektiert.

      Für den Zusammenhalt sind Rituale unentbehrlich, nicht nur auf die höfische Etikette, sondern auf alle Volksschichten bezogen: das Verhalten wird codiert zwecks Übereinstimmung von Gesellschafts- und Persönlichkeitstypus.

      Eine Strategie besteht im Assimilationszwang, eine andere die Stigmatisierung Andersdenkender und eine dritte im Wettbewerb. Netzwerke bilden sich. Die Folge einer solchen Organisation sind Partien.

      Es wird immer weniger mit und immer mehr über einander geredet. Dabei kommt es zu „Interdependenzketten“, die gegenseitigen Abhängigkeiten von Infrastrukturen. Eine sichtbare Auswirkung sind Bürokratien und Hierarchien. Der Planungsdruck für Individuen steigt, da ihre ausgeführten Handlungen nicht mehr direkt besorgt werden, sondern Stationen und Abläufe berücksichtigen müssen. werden müssen. Diese Entwicklung verläuft nicht homogen, sondern regional äußerst differenziert, was die Spannungen zwischen Cis- und Tansleithanien und die Entwicklung der Völker in Europa erklärt.

      Je zivilisierter ein Staat ist, desto weniger darf der Einzelne Schwankungen in Affekten und Trieben nachgehen. Das Persönliche tritt gegenüber dem comme il faut zurück. Emotionen müssen gebändigt und aus der Öffentlichkeit verbannt werden, eine Fassadenkultur entsteht, die von Kulissenpolitik begleitet wird. Alles geschieht für das Protokoll, jedes Ereignis ordnet sich dieser Vorhersehbarkeit unter. Der Prozess der Zivilisation führt zur Transformation der Außenzwänge (Fremdkontrolle) in Innenzwänge (Selbstkontrolle). Einzig Konventionen halten die Diversität in der Donaumonarchie zusammen.

      Die Modernisierung ist vornehmlich durch eine Macht-Monopolisierung gekennzeichnet. Bereits im Mittelalter, während der Herrschaft der Aristokraten, kam es zu einem enormen Konkurrenzdruck bedingt durch Landknappheit. Der Einzelne lebt in ständiger Angst und Unsicherheit, da eine Bedrohung durch körperliche Gewalt jederzeit gegeben ist. Die stetige Unsicherheit verhindert in der eine langfristige vorausschauende Planung des Lebens durch die Menschen. Um die Konkurrenzsituation zu entschärfen, führt der Prozess der Staatsbildung zunächst zu einer Verkleinerung