Bernd Oei

Joseph Roth - Letzter Donauwalzer


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Versuchung begegnet ihm bereits auf dem Gang in Gestalt seiner neuen Zimmernachbarin Gaby, einer Tänzerin(10). Er verbringt die Nacht mit ihr (11) und den anschließenden Tag auf Schloss Fontainebleau (Napoleon nahm hier 1814 seinen endgültigen Abschied) mit ihr: seine Schwierigkeit, sich tiefer auf einen Menschen einzulassen, wird offensichtlich.

      Am Sonntag geht Andreas geht erneut zur Kirche, um seine Schuld zu begleichen (12). Er trifft jedoch wieder auf einen alten Bekannten, der ihn um Geld bittet, das er erhält. Ein zweites Mal ist die Chance vertan (13). Noch einmal trifft er auf den Fremden, der ihn noch einmal Geld für Theresia anvertraut. Andreas flüchtet in die Bar Taro-Bari, Schauplatz in Beichte eines Mörders Schauplatz und bleibt dort eine ganze Woche bis zum Sonntag (14). Er trifft auf ein unscheinbares Mädchen namens Therese, die er prompt für die Heilige hält und ihr das ihm anvertraute Geld gibt. Die junge Frau will seine Gabe nicht annehmen; stattdessen sie dem Verwahrlosten stattdessen selbst hundert Francs. Unmittelbar darauf stirbt Andreas (15).

      2. 6. 2. Vorsehung, Schicksal, Zufall

      Die Legende als Gleichnis oder Parabel zu betrachten liegt nahe. Eine Lesart bietet die, vom Autoren angebotene, das Leben aus der Vorsehung heraus zu betrachten: „Nun wollte es die Vorsehung – oder wie weniger gläubige Menschen sagen würden: der Zufall –, daß Andreas wieder einmal knapp nach der Zehn-Uhr-Messe ankam. Und es war selbstverständlich, daß er in der Nähe der Kirche das Bistro erblickte, in dem er zuletzt getrunken hatte, und dort trat er auch wieder ein.“75

      Der Sinnspruch der Gruppe Anonyme Alkoholiker lautet: Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Für den Philosophen Odo Marquard in Apologie des Zufälligen (1986), der den Abschied vom Prinzip fordert, sind Menschen „mehr unsere Zufälle als unsere Wahl". Im Konflikt zwischen Optimismus der Veränderbarkeit und Pessimismus der Schicksal-Hörigkeit hält er für angebracht, die Balance zu halten und nicht in ein mögliches, doch fiktives, Krisenszenario einzustimmen. „Unsere Nichtkrise ist die eigentliche Krise unseres Denkens.“ Als Skeptiker plädiert er für den Abschied vom Dogma, da sich vermeintliche Wahrheiten als immer kurzlebiger erweisen. Für Marquard verhindert die Krise der Erwartung die Begegnung mit dem wirklichen Sein und seinen Möglichkeiten der Veränderung. In seiner Betrachtung liegt viel Denken Roths.

      Dessen Lebenserkenntnis besteht darin, dass Menschen ratlos geworden sind; sie wissen nicht mehr, wie Zusammenleben funktioniert. Zudem gehen sie in ihrer Naivität fahrlässig mit Chancen um. Invertiert darf auch geschlussfolgert werden: gute Absichten allein genügen nicht, sie verhindern Rettung.

      Drei Frauen begegnet Andreas und mit keiner weiß er mehr anzufangen als mit ihr zu schlafen oder wie bei der Verkäuferin davon zu träumen.

      Ernst Bloch beobachtet in der Ethik die Kraft des Möglichen durch immerwährenden Versuch. Seine, verkürzt das Prinzip Hoffnung genannte Maxime lautet: „Die latente Tendenz zur Verwirklichung von Utopien steckt in den Dingen selbst, die Menschen müssen sie nur entdecken.“76 Menschen verlieren nach dem Krieg das Vorstellungsvermögen, etwas könnte veränderbar sein.

      Dreimal versucht Andreas, sein Schicksal zu wenden und lässt sich dreimal von vermeintlichen Zufällen ablenken, zielgerichtet zu handeln. Er hat gewiss gute Absichten, wie jeder Alkoholiker, der schwört, nie wieder zu trinken und der an der Willensfrage scheitert. Eine Form von psychischem Determinismus liegt darin und führt zur Legende des guten Vorsatzes.

      Gott scheint mit Andreas zu spielen. Das verlorene Geld vermehrt sich auf wundersame Weise immer wieder; es kehrt zu ihm wie Hoffnung oder Schicksal, das erhört und gelebt sein will, zurück. Im Zeitalter der Opulenz, steht er vor einem permanenten Dilemma, sich ändern zu können und es nicht zu vermögen, weil das Jasagern mit der verinnerlichten Legationsrat kollidiert.

      Der Zufall – für Roth Fügung – hält mehrfach Einzug, doch unterscheidet Roth Begegnungen, die aus dem Verhalten resultieren und daher einem sozialen Magnetismus unterstehen von unbeeinflussbaren Ereignissen. „Es schien ihm, daß sein Freund verlorengegangen war im Regen, genauso, wie er ihn zufällig getroffen hatte, und da er kein Geld mehr in der Tasche besaß, ausgenommen fünfunddreißig Francs, und verwöhnt vom Schicksal, wie er sich glaubte, und der Wunder sicher, die ihm gewiss noch geschehen würden, beschloss er, wie alle Armen und des Trunks Gewohnten es tun, sich wieder dem Gott anzuvertrauen, dem einzigen, an den er glaubte.“

      Die naturalistische Ethik - Ludwig Feuerbachs Religionsphilosophie - gründet auf der Überzeugung, dass erst in der Moral wahr oder falsch unterschieden wird und sie objektive Erkenntnisse vermittelt. Der Pragmatiker orientiert sich auf die Übereinstimmung von Erfolg und Handlung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Tatsächlich weicht Andreas negativen Erfahrungen und Orten aus und sucht im übertragenen Sinn seinem Milieu zu entkommen. Doch die Übertragung von einer Situation oder einer Person auf eine andere gelingt ihm nicht, weil die Sucht es nicht zulässt. Andreas folgt einem Muster und gleicht einem Gefangenen in Freiheit.

      Der Not-Naturalismus, vertreten von Albert Schweitzer, geht davon aus, dass spirituelle Wahrheiten nicht auf den Alltag übertragbar sind, ebenso wenig wie die Naturgesetze für Gott oder die Metaphysik gelten. Die Moral erfolgt intuitiv und nun – kognitive, sie kann nicht gelehrt, sondern muss erfühlt und erfahren werden. Anteile dieser Gesinnung, die eine reine Verantwortungsethik beinhaltet, finden sich in der Erzählung auch. Andreas ist ehrlich, er sucht in keiner Situation den eigenen Profit, was ihn zu einer Art „armen Verschwender“ macht, um einen Romantitel von Ernst Weiß aufzugreifen.

      Es gilt, den Zufall der Gelegenheit von jenem der Bestimmung zu unterscheiden. Anfänglich heißt es über Andreas: „Und er lebte von Zufällen, wie viele Trinker.“ Zuletzt lebt von dem Geld, das ihm in Taro Bari zu-fällt. Mit dem geliehenen Geld verändert er sich; er hat Angst, es zu verlieren und beginnt zu rechnen. Das Geliehene ist folglich etwas anderes als das Erarbeitete oder das Geschenkte; es besitzt eine höhere Weihe. Schon seine Begegnung mit der Vergangenheit in Gestalt von Karoline ist es kein banaler oder beliebiger Zufall, der ihn von seiner Vorhabe abhält.

      Andreas begleicht, symbolisiert durch das gemeinsame Abendmahl, eine alte Rechnung und will quitt mit dem Vermächtnis der Zeit sein. Andreas setzt hier ausdrücklich die Begriffe zufällig und schicksalshaft gleich Anders ist die Begegnung mit der Tänzerin Gaby, weil sie ohne Vergangenheit „nur zufällig zueinander gestoßen sind. Die Nacht breitete sich vor ihnen aus wie eine allzu lichte Wüste.“

      So erscheint vordergründig alles zufällig wie in Beichte eines Mörders oder Das falsche Gewicht.77 Ebenso beiläufig findet das Topos des Fremdseins durch Andreas´ Einreise als polnischer Kohlenarbeiter Erwähnung. Das Schwinden vertrauter Welten und Improvisationskunst wirken als latenter Sündenfall.

      Ein Topos, das auch in anderen Prosawerken Verwendung findet ist der Spiegel. „Er ging also, selbstbewusst, trotz seiner zerlumpten Kleidung, in ein bürgerliches Bistro, setzte sich an einen Tisch ... Und da sich seinem Sitz gegenüber ein Spiegel befand, konnte er auch nicht umhin, sein Angesicht zu betrachten, und es war ihm, als machte er jetzt aufs neue mit sich selbst Bekanntschaft. Da erschrak er allerdings. Er wusste auch zugleich, weshalb er sich in den letzten Jahren vor Spiegeln so gefürchtet hatte. Denn es war nicht gut, die eigene Verkommenheit mit eigenen Augen zu sehen.“78

      Auch im Schlusskapitel wird der Blick in den Spiegel auf Andreas entscheidender Wendepunkt, diesmal ist es ein anderer Gast, der bemerkt, wie er gleiche einem Sack umfällt und stirbt. Spiegel gerät zur Metapher für Zufall.

      Die Bilder und Metaphern wiederholen sich, daher erscheint die legende vom Heiligen Trinker als Abbreviatur der gesamten Prosa. Im Hotel Savoy und in Der stumme Prophet vervielfacht der Spiegel die Räume und die Perspektiven, er verdeutlicht Distanz zu dem Gespiegelten, den Objekten. Der Clown Komantschin stirbt vor einem Spiegel, in dem er sich rasiert.

      Kühles Glas, das neben Transparenz auch für Kälte und Austauschbarkeit der Menschen steht, bildet ein dem Spiegel nahestehendes Motiv. In Tarabas fungier