Günther Dümler

Mords-Zirkus


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Brötchen verdiente. Der Schweini, nicht der Papa. Der arbeitete nach wie vor in der Münchener Entwicklungsabteilung eines weltweit bekannten deutschen Konzerns mit einem großen S am Anfang und einem kleinen s am Ende.

      Der Basti teilte sich mit seinem besten Freund, dem Jennerwein, den schattigen Platz an der Nordseite des schmucken Einfamilienhauses in Odalfing, einem Ort in der südöstlichen Peripherie von München. Dort saß er gedankenverloren, mit dem Finger in der Nase nach unergründlichen Schätzen forschend, auf der hölzernen Bank und dachte angestrengt darüber nach, was er in den kommenden fast sechs Wochen grenzenloser Freiheit, also ohne die lästige Schulpflicht, anstellen konnte. Sein Freund Jennerwein lag derweil völlig entspannt neben ihm, lang dahingestreckt und absolut frei von solch anstrengenden Gedankenspielen auf einer alten zerschlissenen Decke. Der schloss lediglich von Zeit zu Zeit in einem aufreizend langsamen Tempo die schwer gewordenen Augenlider, gerade so als würde ihm selbst diese minimale Regung eine unzumutbare Mühe bereiten. Einem unbedarften Zuschauer, also einem Jeden der ihn und seine Eigenheiten nicht näher kannte, hätte sich unweigerlich der falsche Eindruck aufgedrängt, er sei extrem hinfällig und würde vermutlich nie wieder die Kraft aufbringen sie erneut zu öffnen. Doch entgegen allen berechtigten Befürchtungen zog der Phlegmatiker in einem Anflug von Pflichtbewusstsein die Jalousien schon nach wenigen Sekunden wieder bis ganz nach oben. Er wollte sich nichts von den Vorgängen entgehen lassen, die sich im Garten der Familie Kellermann abspielten. Schließlich repräsentierte er das vollständige Wachpersonal des Hauses und er konnte es sich aus diesem Grunde keinesfalls leisten, seine angestammten Aufgaben zu vernachlässigen. Seine in vielen Jahren erworbene Reputation stand auf dem Spiel. Auch ein Golden Retriever hat schließlich eine Berufsehre.

      Zudem interessierte er sich schon aus purer Neugierde brennend dafür, was die wohl genährte, grau getigerte Nachbarskatze Nora mit ihren ausgefahrenen Krallen und eifrig kratzenden Pfoten unter dem üppig blühenden Rosenbusch zu suchen hatte, mitten in seinem Revier, in seinem ureigensten Herrschaftsbereich. Nach einigen Minuten erfolglosen Scharrens gab die penetrante Invasorin ihre dubiosen Bemühungen auf und stolzierte rotzfrech und hoch erhobenen Hauptes an den beiden müden Kriegern vorbei in Richtung Hauseingang. Eine Provokation, zweifellos. Eine die man nicht ungestraft hinnehmen kann.

      Es kann nicht mehr zufriedenstellend aufgeklärt werden, was sie dort zu suchen hatte. Nachträglich betrachtet muss man wohl von einer gefährlichen Mischung aus jugendlichem Übermut, eigener Selbstüberschätzung und völliger Unterschätzung der angeborenen Reflexe Jennerweins, sowie dessen ausgeprägtem Pflichtgefühl ausgehen. Zu diesem Zeitpunkt wusste die unfreiwillige Selbstmörderin sicher noch nicht, dass gleich hinter der Haustür ein blank polierter Fressnapf stand, der den Namen seines Eigentümers trug. Ein Besitztum, welches er notfalls unter Einsatz seines Lebens zu verteidigen gedachte und unter keinerlei Umständen mit ungeladenen Gästen zu teilen bereit war. Ob die leichtfertige Mietze tatsächlich im Sinn hatte sich an seinen Vorräten zu vergreifen oder ob sie nur zufällig in deren Nähe gelangte, das weiß man bis heute nicht. Wahrscheinlich auch sie selbst nicht mehr, nicht nach dem, was ihr anschließend widerfuhr. Jedenfalls hatte der kräftige, wenn auch unter normalen Umständen gemütliche Hund exakt diesen fatalen Schluss gezogen, war mit weiten Sätzen von der Bank heruntergeschnellt und hatte sich unvermittelt auf den Eindringling gestürzt um den dreisten Futterdiebstahl zu verhindern und der windigen Hereingeschmeckten, wie er als gebürtiger Münchner die Diebin treffend bezeichnen würde, sicherheitshalber eine Lektion fürs Leben zu erteilen. Die Katze fühlte sich in die Enge getrieben und sah keine Chance mehr sich im heimischen Nachbarsgarten in Sicherheit zu bringen und suchte deshalb ihr Heil in der Flucht nach vorne. In ihrer verständlichen Panik hechtete sie blindlings in den Hausflur der Kellermanns, wurde aber sofort von ihrem Verfolger unter lautem Bellen von dort verjagt. Blieb nur noch die Flucht in das Wohnzimmer. Dort war Heidi Kellermann, Bastis Mutter, eben dabei, auf einer schwankenden Haushaltsleiter balancierend, die frisch gewaschenen Vorhänge erneut ans ebenfalls frisch gewienerte Fenster zu drapieren, was auch ohne das darauf Folgende eine zirkusreife Nummer hergegeben hätte. Das Unglück war unvermeidlich, wie jeder aufmerksame Beobachter unschwer hätte voraussagen können. Der Stubentiger huschte in seiner Angst unter der Leiter hindurch, dicht gefolgt vom Jennerwein, der aufgrund seiner Masse, einer eindeutig überhöhten Geschwindigkeit und dem frisch eingelassenen Parkettboden nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, aus der Kurve getragen wurde und mit seinem beachtlichen Gewicht gegen eines der blechernen Beine der alles andere als standfesten Leiter prallte. Ein schmerzhaftes Aufjaulen folgte unmittelbar danach, begleitet von einem spitzen Schrei, der eindeutig keinem der beiden tierischen Kontrahenten zuzurechnen war, sowie einem blechernen Scheppern der umgekippten Leiter.

      Als der Basti endlich hinter dem hechelnden Jennerwein her rennend das Wohnzimmer erreichte, da lag seine Mutter bereits mit schmerzverzerrter Miene auf dem harten demolierten Parkett. Die Kratzer, die die Bremsversuche der beiden Kampfhähne sowie die kantige Leiter hinterlassen hatten, waren im Augenblick jedoch eindeutig das geringste Übel. Diesen Schaden könnte man womöglich mithilfe eines Spezialmittels und etwas Sorgfalt wieder herauspolieren. Bei Heidi Kellermann wäre eine derartige Maßnahme allerdings kaum hilfreich, schon gar nicht sofort. Ihre Schulter sah schlimm aus. Abgesehen von den Schmerzen, die sie ihr verursachte, konnte auch ein Laie auf den ersten Blick erkennen, dass sich hier etwas deutlich verschoben hatte. Oh je! Der verzweifelte Basti kauerte mittlerweile neben der verunglückten Mutter, mit flehentlichem Blick hoffend, dass es nicht gar zu schlimm sein würde.

      „Mama, soiti vielleicht an Papa oh ruafa, dassa glei hoam kimmt?“

      „Na Basti. Hol mer aber as Telefon her. Mir brauchn die Sanitäter. Der Papa konn doch sowieso ned komma, der landet doch scho glei in Indien. Der konn uns die nächstn drei Wocha ganz bestimmt ned helfa.“

      Sie sprach in einem eigenartigen Gemisch aus hochdeutsch, bayerisch und einem in Odlfing, wie ihr Wohnort von den Einheimischen ausgesprochen wurde, eher exotisch anmutenden Akzent. Ein sprachlicher Einschlag, den ein intimer Kenner der bayerischen Dialekte zweifelsfrei als middlfränggisch einstufen würde. Das war auch kein Wunder, denn gerade einmal vor eineinhalb Jahrzehnten war sie mit ihrem damaligen Verlobten und jetzigen Ehemann, dem gebürtigen Münsterländer Markus Kellermann aus dem heimatlichen Röthenbach nach München umgezogen. Aus Gründen der besseren beruflichen Perspektive. Zunächst in eine kleine Zweizimmerwohnung, die zwar preislich mit jeder Penthauswohnung in einer kleineren Stadt mithalten konnte, jedoch keinesfalls mit dem damit verbundenen Raumangebot. Als sich dann der Basti überraschend angemeldet hatte kauften sie sich schließlich ein Eigenheim in Odalfing, südöstlich der Großstadt, nicht weit von Markus‘ Arbeitsplatz. Zweifellos ein finanzielles Abenteuer angesichts der horrenden Hauptstadtpreise, die auch vor der näheren Umgebung nicht halt machten, eines an dem sie noch lange abzahlen würden, also in mehrfacher Hinsicht eine Anschaffung fürs Leben.

      Als die eilig angeforderten Sanitäter bald darauf eintrafen stand schnell fest, dass zumindest das Schlüsselbein gebrochen und eine Einlieferung in ein Unfallkrankenhaus unvermeidlich war. Eine längere Schaffenspause inklusive. Dort würde man dann sehen, was sonst noch alles in Mitleidenschaft gezogen war.

      Schöne Ferien! Was sollte nun mit dem Basti geschehen und wer sollte den Hund versorgen, wenn die Mutter für mehrere Wochen ausfallen würde und der Vater fernab in Indien weilte. Allein zuhause lassen konnte man die beiden auf gar keinen Fall und bei Freunden konnte er kaum unterkommen, denn die waren allesamt bereits in die Ferien aufgebrochen, in den Süden ans Meer oder wie Bastis bester Freund Florian zu den Großeltern an die Ostsee, wo die ein Ferienhaus besaßen. Ja, natürlich, die Großeltern! Das war die einzig mögliche Lösung. Der Krankentransport musste noch einen Augenblick warten. Zuerst wählte Heidi aufgeregt die Nummer ihrer Eltern.

       „Kleinlein.“ Peter meldete sich wie immer kurz und prägnant. Immer, das heißt wie immer dann, wenn er überhaupt den Hörer abnahm. Wenn die Marga daheim war, dann wartete er mindestens den fünften Klingelton ab bevor er es wagte ran zu gehen. An diese ungeschriebene Regel hielt er sich schon allein deshalb, weil neunundneunzig Prozent aller Anrufe ohnehin für die Dame des Hauses bestimmt waren und er auf sein Melden hin stets ein „Iss die Marga wohl gornedd nedd derhamm?“ zu hören bekam. Im Moment galt diese Regel