Günther Dümler

Mords-Zirkus


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ereignislos. Es war schon fast dunkel, als die Beiden Röthenbach erreichten und schließlich vor dem Haus der Kleinleins anhielten. Peter drückte kurz auf die Hupe, um ihre Ankunft anzuzeigen. Jetzt war es wichtig für gute Stimmung zu sorgen, bevor zweifellos die unvermeidliche zweite Runde des Schauspiels „Das arme Kind und die treu sorgende Großmutter“ beginnen würde. Es ging auch gleich mit einer heiklen Szene los.

      „Allmächd Basti, lass di ner anschauer. Grouß bisd worn, seid mer dich äs letzde Mal gseeng homm. Mein Godd bisd du gwachsn, Kind! Lass der no glei a anschdändichs Bussi gebn!“

      Mit diesen Worten hatte sie ihn auch schon gepackt und an ihren großmütterlichen Busen gedrückt. Das mit dem Wachsen war schon schlimm genug, als ob das ein einmaliger, unglaublicher Vorgang sei, wie die Geburt einer Kuh mit zwei Köpfen. Er kam sich kurzzeitig vor wie ein Schlachtochs, den der Metzger taxiert. Und dass man ihm auch noch bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben musste, dass er ein Kind sei, gefiel ihm noch viel weniger. Und dann noch die alberne Küsserei. Genau wie die Mama. Weiberleut sind einfach anders, unbegreifbar. Aber man musste gute Miene zum bösen Spiel machen, denn für die nächsten Wochen würde er hier überleben müssen und da blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als ein paar Kompromisse zu schließen. Immerhin waren das seine Großeltern und sie meinten es bestimmt nicht so. Alte Leute sind halt etwas eigenartig.

      „So, etz geh rei. Kumm, bisd beschdimmd rechd müd nach derer ganzn Aufregung. Konnsd di glei aweng hinleeng und ausruher. Ich mach der derwall woss zum Essn. Der Opa hold scho dei Zeich alles rei und bringds auf dei Zimmer.“

      Dass der Opa nach der langen Fahrt auch ein bisschen Ruhe gut gebrauchen hätte können kam ihr gar nicht erst in den Sinn. Wahrscheinlich war der Basti im Moment sogar noch um einiges besser drauf und aufgrund seines jugendlichen Alters sowieso fit wie ein Turnschuh. Aber es half nichts. Der Enkel war soeben in die persönliche Obhut der Marga übergegangen, sofern man nicht gleich von einer Inbesitznahme reden wollte.

      Mit dem Ausruhen wurde es erst einmal nichts, für keinen der beiden Männer. Die Marga musste doch noch alles ganz genau erfahren und gab nicht eher Ruhe, bis alle bisherigen Erkenntnisse inklusive aller möglichen Komplikationen, sowie die Therapieansätze aus dem Erfahrungsschatz der Freundinnen ausgiebig diskutiert waren. Es war schon spät als der Basti endlich ins Bett kam. Die Oma hatte ihm im Gästezimmer ein Bett hergerichtet, sogar an eine bubengerechte Bettwäsche hatte sie gedacht. Glaubte sie jedenfalls. Den Basti hätte trotz seiner jungen Jahre und der ausgezeichnten Verfassung in der man sich in diesem Alter noch befindet fast der Schlag getroffen. Die Bettdecke zierte ein weißer Kreis auf weinrotem Untergrund, in den die Buchstaben 1.FCN hineingedruckt waren, mit anderen Worten ein riesiges Logo des 1. Fußballclub Nürnberg. Es dauerte daraufhin mindestens eine weitere halbe Stunde bis der Junge dazu überredet werden konnte, sich in diesem Konkurrenzdesign zur Ruhe zu begeben, sofern man das Wort Konkurrenz angesichts des Klassenunterschiedes zwischen dem ehemaligen und dem aktuellen Deutschen Rekordmeister überhaupt in den Mund nehmen durfte. Es stellte sich heraus, dass der Sohn, genau wie sein Vater – Peter erinnerte sich an lange Diskussionen aus der Zeit da die Heidi noch zuhause gelebt hatte – ein waschechter und unerschütterlicher Anhänger des FC Bayern München war. Die erste ernste Krise noch vor dem Auspacken der Koffer bahnte sich an.

      Peter, dem als Fußballinteressiertem die Brisanz der Situation voll bewusst war, dachte unwillkürlich: „Das kann ja noch heiter werden.“ Die Oma aber meinte nur lapidar „Fußball ist Fußball“, arglos, wie so manches weibliche Wesen, zumal eines, das noch zu der Zeit geboren wurde als Fußball reine Männersache war. Wahrscheinlich gehörte sie sogar zu jenen, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Vorschlag machten, man solle doch jedem der zweiundzwanzig Spieler einen eigenen Ball geben, damit der ewige Streit ein Ende hätte. Genug Geld sollten diese Profivereine schließlich haben. Naja, wenn man nicht schon ohnehin gewusst hatte, dass sie keine ausgewiesene Fußballkennerin ist, dann hätte sie es mit dieser lächerlichen Ansicht schon zum zweiten Mal hinreichend bewiesen. Aber woher sollte sie denn auch wissen, dass in finanzieller Hinsicht der 1.FCN, wie in so vielen Belangen, eine Ausnahme bildete und durchaus keine ruhmreiche. Irgendwann überwog dann die Müdigkeit doch noch die vereinstaktischen Vorbehalte und der Basti schlief endlich ein.

      „Schade, dass wir schon wieder aufbrechen müssen. Hier hatten wir doch zwei wunderbare Wochen, ein paar der Vorstellungen waren sogar komplett ausverkauft. Endlich mussten wir uns einmal keine allzu großen Sorgen machen und nun? Können wir nicht noch ein paar Tage anhängen, Annunzio?“

      Die schlanke, drahtige junge Frau schaute bittend zu einem älteren Herrn in einer löchrigen und ölverschmierten Montur hinauf, der mit einem einfachen Schraubenschlüssel an einem alterschwachen Unimog herumdokterte. Kein Mensch hätte in diesem Moment in ihm den souveränen Zirkusdirektor Annunzio Bellini vermutet, den elegant herausgeputzten Mann der noch am Abend zuvor mit Frack und Zylinder, das glitzernde Mikrofon in der Hand, so begeisternd durch das Abendprogramm des gleichnamigen Zirkus geführt hatte. Aber der Zirkus Bellini gehörte nicht zu den eindrucksvollen Unternehmung, die mit hunderten von Artisten, Tieren samt ihren Dompteuren und einer ganzen Schar von hilfreichen Händen in modernen Wohnwagen durch die Lande zogen, die schon Monate, oft ein ganzes Jahr im Voraus wussten, wo sie ihre Zelte aufschlagen würden. Nein, dieser Direktor stand lediglich einer verschworenen kleinen Truppe vor, wo jeder für alles zuständig und ein bedrohlicher Geldmangel ein ständiger Reisebegleiter war. Darum war es auch nicht weiter verwunderlich, dass Annunzio selbstverständlich mit Hand anlegen musste. Annunzio oder einfach nur Zio, wie ihn allerdings nur diejenigen Mitglieder seines Ensembles nennen durften, die schon von Anfang an mit ihm zusammenarbeiteten. Beim Zeltauf- und -abbau, beim Verladen der schweren Gegenstände und natürlich auch bei der Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel, die der kleine Zirkus benötigte, um überhaupt überleben zu können wurde jede Hand gebraucht. Das hätte niemand vermutet, der ihn Abend für Abend souverän im Scheinwerferlicht agieren sah, selbstsicher und elegant. Die wenigsten der geschätzten Besucher konnten sich eine Vorstellung davon machen, wie hart das Leben als fahrende Truppe sein konnte.

      Zio ist italienisch und heißt auf Deutsch Onkel, was zwar nett klingt, aber irreführend ist. Er ist kein Onkel, jedenfalls war ihm bis dato von einem derartigen Status nichts bekannt. Die Abkürzung seines eleganten Namens ist nur willkürlich so gewählt, weil es eben kürzer und somit für den täglichen Umgang eindeutig praktischer ist. Annunzio passt in die Manege, nicht zu einem Mann, der Futter für die Tiere schneidet, den anfallenden Mist zusammenkehrt und sich auch nicht zu schade ist, den altersschwachen Motor der Zugmaschine zu reparieren, wenn die Not es erfordert, so wie eben. Eine altersschwache Zugmaschine, das traf es ziemlich genau. Nicht viel anders fühlte sich Zio im Augenblick.

      Wieder einmal war die Kasse nahezu leer. Zio war müde, ausgelaugt von dem täglichen Kampf um das Weiterbestehen seines Lebenswerkes. Doch auch die Stimmung in der Truppe machte ihm enorm zu schaffen. Bei den Los Alamos, die er Abend für Abend als fliegende Menschen ankündigte, herrschte dicke Luft. Ausgerechnet in einer Gruppe, deren Flugnummer wie keine andere auf ein perfektes Zusammenspiel der jeweiligen Aktionen und eine hundertprozentige Abstimmung zwischen den beteiligten Künstlern angewiesen war. Blindes Vertrauen vorausgesetzt. Ein falscher Griff oder ein verspäteter Absprung konnten eine schwere, wenn nicht sogar tödliche Verletzung des Partners zur Folge haben. Das Zelt des Zirkus Bellini war natürlich nicht mit den domartigen Kuppeln der großen Unternehmen vergleichbar, dennoch konnte ein Absturz schwere bleibende körperliche Schäden nach sich ziehen. Zio machte sich ernsthafte Sorgen. Zorn und schwelender Ärger konnten leicht die Konzentration entscheidend schwächen. Sicher überwog die professionelle Einstellung bei Elena Popescu, einer ehemaligen rumänischen Kunstturnerin und ihrem Partner Samson, dem Fänger des Duos die derzeitige Missstimmung, aber er hatte nicht vergessen wie heftig sich die beiden noch gestern Abend gefetzt hatten. Es hatte harsche Worte gehagelt, in beide Richtungen und wenn er sich nicht sehr irrte sogar eine krachende Ohrfeige für Elena. Dass sie trotz des enormen Gewichts- und Größenunterschiedes nicht ganz wehrlos war, unterstrich heute ein blutiger Kratzer im Gesicht ihres Partners. An einem hervorstehenden Draht hätte er sich verletzt, gab er gegenüber Annunzio an, als dieser ihn darauf ansprach. Doch der glaubte ihm kein Wort. Den genauen Grund für dieses