Günther Dümler

Mords-Zirkus


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unruhig.“

      Basti pfiff nach dem Jennerwein, der, allerdings erst nach wiederholter Aufforderung, unwillig zu seinem Herrchen zurückkam. Auch Hunde sind hin und wieder neugierig. Peter nahm ihn an die Leine und hielt in gut fest. Die drei blieben noch eine Weile stehen und beobachteten interessiert den Aufbau. Es handelte sich um keinen großen Zirkus, wohl eher um ein kleines Familienunternehmen, das sich mit Müh und Not durchschlug. Peter zählte ganze vier Wohnwagen, einer davon von modernerer Art, wie sie auch auf Campingplätzen zu finden waren, die anderen waren mehr umgebaute Bauwagen, dafür aber mit eindrucksvoller Farbgestaltung, welche auf Anhieb tatsächlich eine gewisse Zirkusromantik vermittelte. Einige weitere Anhänger schienen nicht unbedingt zu Wohnzwecken genutzt zu werden. Vielleicht wurden darin ja die wilden Tiere transportiert, die ein solcher Zirkus sicher mit sich führte. Basti dachte sofort an Löwen und Tiger. Einen Elefanten hatten sie wohl nicht, der hätte in keines der vorhandenen Gefährte gepasst. Die Beiden schauten noch eine Weile zu. Gerade als sie sich wieder auf den Weg machen wollten, da kletterte ein etwa sechzig- bis siebzigjähriger Mann aus dem neutralen Wohnwagen. Er hatte trotz seines Alters noch pechschwarze Haare und machte auch sonst einen durchtrainierten Eindruck. Vielleicht spielte ja auch er noch einen aktiven Part in den Vorstellungen. Peter schaute genauer hin. Er hatte sofort ein unbestimmtes Gefühl den Mann schon einmal gesehen zu haben. Doch er kannte niemand aus dem Zirkusumfeld und spätestens als die anderen Akteure ihn Annunzio riefen, war er sich völlig sicher, dass er einer ziemlich großen Ähnlichkeit mit einer anderen Person aufgesessen war. Er grübelte noch eine Weile darüber nach, gab es dann aber endgültig auf. Einen Annunzio kannte er nicht, jedenfalls nicht persönlich. Da gab es einmal vor Jahrzehnten einen Annunzio Mantovani, aber das war ein Orchesterleiter, der für seine Klangteppiche und einen extrem weichen Sound, hervorgerufen von Unmengen von Geigen, bekannt war. Damals, als Peter noch ein junger Mann war und Tanzen zu seinen bevorzugten Hobbies zählte. Seither hatte er diesen Namen nicht mehr gehört. Nein, ein Träger dieses seltenen Namens wäre ihm sicher im Gedächtnis hängen geblieben.

      Es wurde Zeit für das Mittagessen und so drehten die beiden Betrachter um und strebten Margas kulinarischem Angebot zu. Es gab Schäuferle mit Kloß und Salat, Lektion eins in Sachen fränkisches Erbe. Um es gleich vorweg zu nehmen. Die erste Lehrstunde war ein totaler Fehlschlag. Viel zu fett und das einzige, was bei den Knödeln an Semmeln erinnerte waren die angerösteten Wegglerswürfel, die Bräggerler, die Marga, wie es sich gehörte, in die Mitte der Klöße appliziert hatte und die dafür sorgten, dass diese schön weich wurden ohne zu verkochen. Mit Bastis geliebten Semmelknödel hatten sie deshalb aber noch lange nichts gemein. Er begann sich Sorgen zu machen, wie er hier in der Provinz überleben sollte. Very strange, diese Franken. Und dann erst noch die Sprache. Er mochte seinen Opa ja, sehr sogar, aber dessen Versuche ihm fränkisch beizubringen waren schon nervtötend. Ohzullds Buddlersbaa hatte er nachsagen sollen und Gaggerler, aber dazu hatte er einfach keine Lust und er hoffte sehr, dass auch der Opa bald keine mehr haben würde. Zum Sprachunterricht, versteht sich. Aber der Zirkus interessierte ihn sehr und wollte ihm gar nicht mehr aus dem Kopf gehen. Vielleicht durfte er später ja noch einmal hingehen, alleine natürlich, und einfach nur zusehen, wie das Zelt aufgebaut wurde und wie sich das Lagerleben in einem Zirkus so gestaltete.

      Der Opa hatte glücklicherweise schon wieder anderes im Kopf.

      „Horch“, sagte er eben zur Großmutter, „horch amaal, auf dem Zirkusbladds dou iss a Mann gschdandn, dou hädd ich mein Groong verwedded, dassi denn schon amaal wo gseeng hobb. Abber ich konn mi nedd ums Verreggn mer erinnern, wo dess war. Abber iss ja aa worschd, wahrscheinli schaud er blouß jemand ähnlich, denn ich früher kennd hobb.“

      „Dess kummd alles blouß von deine immerwährendn Dedeggdivgschichdn. Hinder alln und jedn siggsd du ann Verdächdichn“, gab ihm seine Marga klar und deutlich zu verstehen, was sie von seinem Hobby hielt.

      „Ich sooch ja aa blouß, dasser mer bekannd vorkommd, von an Verdächdichn odder dergleichn hobbi doch garnix gsachd“, verteidigte er sich und in dem Bestreben den Frieden im Hause Kleinlein augenblicklich wieder herzustellen sandte er noch ein versöhnliches „Naja, iss ja aa worschd“ hinterher.

      „Hobn sie mei Brilln gseeng, Frau Neumann und mein Kuglschreiber?“, rief der alte Mann in die Küche, in der eben jene Frau Neumann dabei war den Fliesenboden zu wischen. „Ich braucherds hald, damidi mei Greuzwordrädsl machen konn. Auf die Weidn gäihds ja nu, abber beim Lesen siechi ohne doch scho fasd nix mehr.“

      „Ach Herr Betz, ich konn doch nedd den ganzn Dooch hinder ihner herlaufn. Ich muss doch midn Butzn ferdich wern. In anner halbn Schdund kummd mei Moh vo der Ärberd hamm, dou muß ich derhamm sei, dou brauchd er doch sei Essn.“ Und zu sich selbst gewandt fügte sie leise hinzu: „Also glabbsd ers, der wird doch aa alle Dooch bläider.“

      Leider hatte sie das Resthörvermögen ihres Schützlings, wenn man ihn denn so nennen konnte, völlig unterschätzt. Den letzten Satz hatte er sehr wohl mitbekommen und er verfiel deshalb erneut in eine gewisse Niedergeschlagenheit, die ihn in letzter Zeit des Öfteren übermannte. Die Frau Neumann war seine Nachbarin, eine resolute Frau um die Fünfzig, die seit einiger Zeit einen Teil der Hausarbeiten für ihn übernommen hatte. Sie schien ihn also auch für hinfällig zu halten. In seinem Alter, er wurde dieses Jahr einundachtzig, brauche er jemand, der nach ihm sehen und ihm die schwereren Tätigkeiten abnehmen würde, hatte sie ihm erklärt und er hatte nach längerem Überlegen eingewilligt. Bis zu einem gewissen Grad hatte er das alles auch eingesehen. Sie hätte auch für ihn gekocht, aber das hatte er strikt abgelehnt. Er könne schon noch selber für sich sorgen und eine Beschäftigung brauche er schließlich ja auch noch, wenn er nicht vorzeitig der Demenz anheimfallen wolle. Von wegen. Ein Wunder, dass ihm ein solch schwieriges Wort wie Demenz überhaupt noch eingefallen war. Über dieses Stadium war der Alte doch schon lange hinaus.

      Christa Neumann klemmte ihren patentierten Wischmop in den dazugehörigen Eimer und machte sich, den Putzlappen noch immer in der rechten Hand, auf den kurzen Weg ins Wohnzimmer. Er würde ja doch keine Ruhe geben. Sie besah sich mit tadelnder Miene und missbilligend hochgezogenen Mundwinkeln die Unordnung, die auf dem schweren, altmodischen Couchtisch schon wieder herrschte, obwohl sie erst vor einer halben Stunde mit dem Wohnzimmer fertig geworden war. Schließlich hob sie die dort schon wieder kreuz und quer herumliegenden Zeitschriften auf und siehe da. Da lag die gesuchte Lesebrille. Keinen Meter entfernt von Alois Betz‘ Lieblingsplatz auf dem Sofa, den er, kaum dass sie in die Küche weitergezogen war, bereits wieder besetzt hatte. Von dem vermissten Kugelschreiber allerdings keine Spur. Christa Neumann verfügte keinesfalls über das sogenannte zweite Gesucht. Was auf den ersten Blick wie eine hellseherische Fähigkeit wirkte war in Wirklichkeit einfach nur simple Logik. Meistens fand sich das Vermisste in der unmittelbaren Umgebung des Alten. Wo sollte es auch sonst sein. Er hatte sich in der letzten halben Stunde doch kaum vom Fleck bewegt. Sicher hatte er die Sehhilfe einfach nur abgenommen und nach ein paar Minuten schon wieder vergessen, wo er sie hingelegt hatte. Und das war kein Einzelfall. Jeden Tag erlebte Frau Neumann solche Dinge mehrfach. Er sollte halt doch endlich einwilligen und in ein gepflegtes Altenheim umziehen, wo er seine Rundumversorgung haben würde. Seine Pension war hoch genug, um es sich leisten zu können. Aber er war stur. Vielleicht begriff er seine wirkliche Lage auch schon nicht mehr. Sie hatte ihm sogar schon mehrfach angeboten, das Anwesen zu kaufen, so dass er sich von dem Geld einen schönen Platz in einer gehobeneren Seniorenresidenz sichern konnte. Aber er wollte partout nicht.

      „Binn doch nunni ganz verrüggd. Derhamm iss derhamm.“

      Das waren seine Antworten gewesen. Jedes Mal. Und dabei konnte man zusehen, wie er verfiel. Christa Neumann dachte unwillkürlich an den täglichen Spot in der Abendschau des bayerischen Rundfunks und stellte sich vor wie er sagen würde:

      „Ich bin der Alois und dou binni derhamm!“

      Wenn Kinder da wären. Ja, das könnte sie verstehen. Dann hätte er jemanden, dem er sein Haus vererben könnte. Aber so. Frau Neumann war für heute fertig. Sie packte ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich von Alois Betz. Der war noch die paar Meter bis zur Tür mitgegangen und hob zum Abschied die rechte Hand und winkte unbeholfen. Aber sie bekam es gar nicht mehr mit. Sie hatte es eilig.