Franziska Hartmann

Doran


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war wieder verschwunden.

      Ich wusste, dass ihre Müdigkeit nicht der einzige Grund war. Sie schämte sich für die Wunde in ihrem Gesicht. Sie hatte Angst vor den Blicken der anderen. Ich stand auf, nahm ihre Hände und zog sie in meine Richtung.

      „Bruder?“, rief sie überrascht.

      „Steh auf. Bryos freut sich sicher, dich kennenzulernen. Ich habe ihm schon viel von dir erzählt.“

      „Aber ich will nicht“, quengelte Lilly. Trotzdem krabbelte sie mir entgegen an ihre Bettkante.

      Ich drehte mich um. „Kletter auf meinen Rücken, ich trage dich.“ Cuinn hatte das oft getan. Er hatte sie ständig auf dem Rücken durch die Stadt getragen. Und sie hatte dabei immer Spaß gehabt.

      Lilly zögerte kurz, dann stieg sie auf meinen Rücken.

      „Festhalten!“, rief ich und kaum hatte sie ihre Arme um meinen Hals geschlungen, lief ich los. Ich musste grinsen, als sie vor Freude quietschte, während ich mit ihr durch das hohe Gras galoppierte. Lillys Befürchtungen waren berechtigt gewesen: Wir wurden angeschaut. Von allen, an denen wir vorbeirasten. Doch ich war mir sicher, dass Lilly das gar nicht bemerkte. „Bist du bereit für einen Sprung?“, fragte ich sie.

      „Ja! Ja!“, rief sie aufgeregt.

      Ich rannte auf einen am Boden liegenden Ast zu. Als ich absprang, kreischte Lilly vergnügt. Bei meiner Landung geriet ich beinahe ins Stolpern und beschloss, mein Tempo etwas zu verlangsamen. Vor Bryos‘ Stand kam ich schließlich keuchend zum Stehen. Ich ließ Lillys Beine los und sie rutschte von meinem Rücken herunter. Ich sank ins Gras und blieb dort eine Weile schwer atmend liegen. „Du bist ganz schön schwer.“

      Lilly kicherte. „Oder du zu schwach.“

      „Schwer und frech“, ergänzte ich.

      Lilly lachte noch mehr. „Aua, mein Gesicht tut weh.“

      „Das kommt davon, wenn man seinen großen Bruder auslacht.“

      Lilly streckte mir die Zunge raus.

      „Doran, sag bloß, du möchtest mir heute deine Schwester vorstellen“, unterbrach Bryos unseren Schlagabtausch.

      Lilly und ich verstummten. Ich rappelte mich wieder auf und klopfte mir das Gras von der Kleidung. „Ja! Bryos, das ist meine Schwester Lilly.“ Ich machte eine ausladende Handbewegung zu Lilly. „Lilly“, ich schwang meine Hand Richtung Bryos, „das ist Bryos, der beste Holzschnitzer weit und breit.“

      Bryos saß da, in die Figur vertieft, die er gerade schnitzte. Doch bei meinen Worten schlich sich ein amüsiertes Lächeln auf seine Lippen.

      „Bryos, ich muss dir unbedingt etwas zeigen!“, rief ich aufgeregt und lief um den Verkaufstisch herum zu dem Feuergeist.

      Mit einem Blick auf meine Füße hob er eine Augenbraue. „Du hast ja immer noch keine neuen Schuhe.“

      Ich errötete. „Das stimmt.“

      Bryos ließ Holz und Schnitzmesser sinken. „Wofür hast du dein Geld ausgegeben?“

      „Genau das wollte ich dir zeigen.“ Nervös tastete ich an meine rechte Seite, wo ich das Gewicht des Dolches spürte. Meine Hand umschloss das Heft und als ich den Dolch aus dem dunklen Leder zog und zwischen mich und Bryos hielt, erfüllten mich wieder Stolz und dieses Gefühl der Sicherheit.

      „Junge, was willst du mit einem Dolch?“, fragte Bryos skeptisch.

      Ich grinste. „Ich möchte damit schnitzen.“

      Bryos schüttelte den Kopf. „Das ist kein Schnitzmesser.“

      „Das hat Skar auch gesagt.“

      „Und du hast es dir natürlich trotzdem gekauft“, seufzte Bryos. „Wie hast du ihn überhaupt dazu bekommen, dir einen Dolch zu verkaufen? Das sieht Skar nicht ähnlich. Und dann auch noch für nur hundert Rhipa.“

      Nun grinste ich noch breiter. „Worte“, antwortete ich nur und winkte Lilly zu mir. Sie folgte mir hinter den Verkaufstisch. Ich überließ ihr das Sitzkissen und setzte mich neben sie ins Gras.

      „Möchtest du auch schnitzen?“, fragte Bryos sie sanft.

      Lilly schüttelte schüchtern den Kopf.

      „Bist du dir sicher?“, hakte ich nach. Es war mir unbegreiflich, wie man das Schnitzen nicht zumindest ausprobieren wollen konnte.

      Lilly nickte. „Ich will dir nur zuschauen, Bruder.“

      Einen Moment lang sah ich meine Schwester nur verständnislos an. Dann zuckte ich mit den Schultern und schnappte mir ein Stück Holz. „Bryos, ich werde dir zeigen, dass mein Dolch ein hervorragendes Schnitzmesser ist.“

      Bryos lachte. „Ich gebe dir zehn Minuten, ehe du dein richtiges Schnitzmesser wieder zur Hand nimmst.“

      Davon ließ ich mich nicht entmutigen. Ich setzte die Klinge meines Dolches zum Schnitzen an. Zugegeben, es war ungewohnt. Die Klinge war wesentlich länger als die meines Schnitzmessers. Mir wurde schnell klar, dass es schwieriger würde, mit dem Dolch Feinheiten auszuarbeiten. Lilly sah mir begeistert zu. Ich wollte ihr einen Kettenanhänger schnitzen, wie ich es für Koto getan hatte. Allerdings sollte es keine Rose, sondern eine Sonne werden. Denn das war das, was ich ihr wünschte: Sie sollte wieder strahlen wie die Sonne. Neugierig beobachtete Lilly, wie ich die einzelnen Sonnenstrahlen schnitzte. Als mir einer der dünnen Holzarme abbrach, fluchte ich lauthals. Lilly lachte darüber nur. Ihr Lachen zu hören, milderte meinen Frust und ich begann von neuem.

      „Ha!“ Als ich den Anhänger schließlich zu meiner Zufriedenheit fertig gestellt hatte, hielt ich ihn stolz in die Höhe. Ich kramte einen kleinen Metallring und ein dünnes Lederband aus einer Kiste unter dem Tisch und fädelte erst den Ring durch ein Loch im Anhänger und dann das Band durch den Ring.

      „Oh, die ist aber schön geworden“, staunte Lilly mit glänzenden Augen.

      „Für dich“, meinte ich und reichte ihr die Kette.

      Lillys Augen wurden noch größer. Dann fiel sie mir um den Hals. „Die ist wundervoll! Danke, Bruder!“

      Ich lächelte und als sie sich wieder von mir löste, bedeutete ich ihr, sich umzudrehen, damit ich ihr die Kette hinten im Nacken zuknoten konnte. Dann wandte ich mich triumphierend zu Bryos und reckte das Dolchmesser in die Höhe. „Siehst du, es funktioniert.“

      „Mit dem Schnitzmesser wärst du schneller gewesen“, beharrte Bryos. „Trotzdem hast du für deine Arbeit meine Anerkennung.“

      Ich sah ein, dass mir das wohl genügen musste. Ich würde in Bryos nicht dieselbe Begeisterung für meinen Dolch wecken können, wie ich sie verspürte.

      „Bruder, können wir heimkehren?“, fragte Lilly leise, durch ein müdes, blasses Violett hindurch.

      Ich wollte gerne noch länger bei Bryos bleiben, aber ich hatte Lilly versprochen, sie zurückzubringen, wenn sie nicht mehr mochte. Also nickte ich. Ich stand auf und half Lilly auf die Beine. „Wir sehen uns morgen wieder, Bryos“, verabschiedete ich mich und schlüpfte mit Lilly hinter dem Tisch hervor.

      „Doran!“, rief Bryos mir hinterher. Ich blieb stehen und drehte mich um. Bryos lächelte mir warm zu. „Komm morgen nicht zu spät. Ich möchte Holz sammeln gehen.“

      Mein Herz pochte etwas schneller und ich konnte nicht anders, als aufgeregt zu grinsen. Bryos wollte mit mir Holz sammeln gehen! Er würde mit mir das Tal verlassen! Ich wandte mich von Bryos‘ Stand ab und schlenderte mit Lilly über den Marktplatz. Als wir diesen verlassen hatten und die Baumhaussiedlung betraten, konnte ich mich nicht mehr zurücknehmen: Ich vollführte jubelnd einen Freudensprung. Und plötzlich fühlte ich mich so energiegeladen, dass ich rein gar nichts mehr von den Strapazen der vergangenen Monate spürte.

      DAS HERZ DES TALS

      „Hast du auch vernünftig gefrühstückt?“,