Franziska Hartmann

Doran


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Sie werden allesamt verbrennen. Heute. Und du hast keine Chance, sie davor zu bewahren.

      Ich schluckte und blickte auf meine Hände an dem hölzernen Rad. Würde ich auch sterben? Verrate mir, ob ich heute sterben werde! Aber der Blick auf meine Hände verriet mir nichts. Ich sah nur ganz gewöhnliche Hände. Ohne Farben. Ohne irgendeinen Hinweis. Abgesehen davon, dass sie knöchrig und aufgeschürft waren und ich das Gefühl hatte, ich würde eine ganze Weile keinen einzigen Gegenstand darin halten können.

      „Bruder!“

      Der Ruf einer sehr vertrauten Stimme weckte meine Aufmerksamkeit. Mein Blick schnellte herum. Lilly. Eine Wache zerrte sie an mir vorbei. „Lilly!“, schrie ich und versuchte vergebens, mich von den Fesseln zu befreien. „Lilly!“ Sie verschwand aus meinem Sichtfeld, als der Mann sie in einen weiteren Pferdewagen verfrachtete. Sie war das letzte Kind, das darin verschwand. Dann wurde die Tür endgültig geschlossen und der Wagen setzte sich in Bewegung. „Lilly!“, schrie ich erneut.

      „Halt den Mund oder willst du dir noch eine einfangen?“, fuhr der Mann mich an, der mich vor wenigen Minuten geschlagen hatte. Er war zurückgekehrt, um meine Fesseln zu lösen und mich in einen intakten Wagen zu bringen, der gerade herangefahren war. Ich verstummte und folgte ihm ohne weitere Versuche, mich zu wehren. Lilly. Sie hatten andere Farben umspielt als die anderen Kinder. Sie hatte eine Chance. Sie würde nicht sterben. Nicht heute. Die Erkenntnis beruhigte mich irgendwie. Auch wenn ich nicht wusste, was mit mir geschehen würde. Und wusste, dass die anderen sterben würden. Lilly würde leben. Und Cuinn? Ich hatte ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht würde ich ihn nie mehr wiedersehen.

      Der Pferdewagen füllte sich. Ich spürte es, weil ich gegen die Wand gedrückt wurde und ich immer schlechter Luft bekam. Es wurde eng. Ich wusste nicht, wie viele wir waren. Ich vermied es aufzuschauen. Ich konnte das nicht sehen. Ich wollte nicht sehen, wie sie starben. Es reichte, den Tod zu spüren, ich musste ihn nicht auch noch vor Augen haben. Der Wagen begann zu ruckeln und zu schaukeln. Die Angst, die ich vorhin noch verspürt hatte, war fort. Als hätte ich sie mit Cuinn und Lilly verloren. Zurück blieb nur eine Leere. Ein taubes Gefühl, das mich lähmte.

      „Doran!“

      Ich sah immer noch nicht auf, als jemand meinen Namen rief. Es war die Stimme eines Jungen.

      „Doran, ich bin es, Leon. Wo sind dein Bruder und deine Schwester?“

      Ich wandte mich noch weiter von Leon ab. Er war einer der Halbblute, mit dem ich mich während unserer Gefangenschaft angefreundet hatte. Wir hatten immer viel geredet. Uns gegenseitig geholfen, die Zeit totzuschlagen und unseren Hunger, unseren Durst und unsere Angst zu mildern. Doch nun wollte ich nicht reden. Und ich war mir sicher, dass nichts in dieser Welt den Schmerz, von dem ich wusste, dass er sich unter der Taubheit versteckte, mildern konnte.

      „Glaubst du, es stimmt, was sie sich erzählen? Werden sie uns verbrennen? Werden wir sterben?“

      Bitte frag mich das nicht, dachte ich. Ich wünschte, ich hätte die Antwort nicht gekannt. Doch ich kannte sie. Und ich hasste sie.

      „Das sind bestimmt nur Gerüchte. Wir werden nicht sterben. Warum sollten sie uns umbringen?“, hörte ich die Stimme eines Mädchens.

      „Warum sperren sie uns ein? Warum lassen sie uns hungern?“, entgegnete Leon. „Sie tun es, weil wir Halbblute sind. Vielleicht ist das auch Grund genug, uns umzubringen.“

      „Nein, sag so etwas nicht! Es wird sicher alles wieder gut“, meinte das Mädchen.

       Nein, wird es nicht. Nichts wird gut.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit blieben wir stehen. Ich hörte, wie die Tür des Wagens geöffnet wurde.

      „Marsch, nicht so langsam!“, rief jemand zu uns herein.

      Die Halbblute neben mir bewegten sich.

      „He, bist du taub, Junge? Bewegung!“

      Ich schaute zur offenen Tür. Der Mann, der dort stand, fixierte mich mit seinem harten Blick. Ich war der Letzte im Wagen.

      „Sind deine Ohren etwa ebenso missgebildet wie dein Auge?“

      Ich trottete auf ihn zu. Er packte mich am Arm und zog mich hinaus. Draußen hörte ich lautes Geheul. Schreie. Es waren Kinder, die nach ihren Eltern schrien. Die um Vergebung flehten. In jenem Moment, in dem sie an riesige Pfähle gebunden wurden. Pfähle, die von gebündelten Holzscheiten umgeben waren. Während der Mann mich zu einem der Pfähle stieß und begann, mich festzubinden, dachte ich ebenfalls an meine Mutter. Sie hatte mir immer gesagt, mein goldenes Auge erinnere sie an eine Sonne. Eine leuchtende, alles erhellende und wärmende Sonne. Es bereitete mir oft Schwierigkeiten. Ich sah Dinge, die ich nicht sehen wollte. Und es verging kein Tag, an dem ich keine Kopfschmerzen hatte von all den Eindrücken. Doch meine Mutter versuchte, mir immer wieder einzubläuen, wie wunderschön dieses Auge war. Und dann dachte ich an meinen Vater, der einfach verschwunden war. Und wider Erwarten war das erste Gefühl, das sich durch meine Taubheit durchkämpfte, keine Angst, sondern Wut. Der Gedanke an meinen Vater machte mich wütend. Er hatte uns allein gelassen. Dabei war sein Blut doch der Grund, weshalb wir nun in dieser Lage waren.

      Meine Gedanken verfielen, als ich Lilly erneut erblickte. Eine Wache war dabei, sie an den Pfahl neben mir zu binden. „Lilly!“, rief ich, so laut ich konnte.

      „Bruder! Bitte, ich will zu meinem Bruder!“, rief Lilly unter Tränen zurück.

      Die Wache hielt inne und schaute zwischen Lilly und mir hin und her. Nach kurzem Zögern löste er Lillys Fesseln und zerrte sie zu mir herüber. „Habt ihr ein Glück. Ich bin vermutlich der Einzige, der euch diesen Gefallen tun würde“, murmelte er, während er Lilly direkt neben mir am Pfahl platzierte und dort fesselte.

      Gefallen. Der Mann wusste offensichtlich nicht, was er dort redete. Hätte er uns einen Gefallen tun wollen, hätte er uns einfach freigelassen.

      „Sie machen Feuer, Doran“, wimmerte Lilly und schaute ängstlich die Reihe der Pfähle entlang zu einem Mann, der eine Fackel entzündete.

      „Ich weiß“, antwortete ich nur. Ich hätte sie gerne aufgemuntert. Doch mir kamen keine aufmunternden Worte mehr in den Sinn.

      Als das Feuer brannte, entbrannte auch Jubel im Volk. In dem widerlichen Volk, das vor uns stand und tatenlos zusah. Und sich freute.

      „Verbrennt die Verräterbrut!“

      „Nieder mit dem magischen Volk!“

      Das waren die Worte, die sie brüllten.

      Ich starrte sie an. Auch als ich grausame Schmerzensschreie hörte, starrte ich sie noch an.

      Lilly heulte. „Bruder!“, weinte sie.

      „Sieh nicht hin“, riet ich ihr.

      „Aber ich höre sie“, jammerte sie weiter. „Sie werden uns auch verbrennen. Er kommt näher. Der Mann mit der Fackel, er…“

      „Sieh nicht hin!“, unterbrach ich sie barsch. Denn ich spürte, dass mit jedem Wort, das sie sagte, meine Angst wieder stärker wurde und sich zu der Wut gesellte. Die Angst, die ich nicht spüren wollte.

      Sie sagte kein Wort mehr. Doch sie weinte noch immer leise. Und ich spürte ihr Zittern neben mir.

      Und dann kam die Hitze. Eine nicht zu ertragende Hitze. Lilly schrie. Lilly stirbt nicht, sagte ich mir immer wieder. Ich musste darauf vertrauen, dass mein Auge mich nicht im Stich ließ. Lilly würde überleben. Sie musste überleben! Dichter Rauch vernebelte meine Sicht. Ich hustete. Jetzt brach die Angst vollends durch. Angst und Panik. Mir war heiß. Und ich bekam keine Luft. Ich hörte Lillys Schreie. Und das Knistern des Feuers. Und wilde Rufe aus dem Volk. Ich konnte nicht mehr denken. Doch obwohl mein Gehirn unter dem Sauerstoffmangel kaum noch funktionieren wollte, ließ mich ein Ruf aus der Menge aufhorchen: „Feuergeister!“ Der Ruf war lauter und klarer als alle anderen. Und er war voller Panik.

      Feuergeister. Waren Feuergeister hier? Konnte das sein?

      Lillys