Franziska Hartmann

Doran


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den dunklen Farben, bis hin zu schwarz, die sie umgaben, konnte ich ablesen, dass das immer noch weit entfernt von gut war.

      „Er ist weggelaufen“, murmelte Lilly so leise, dass ich mich anstrengen musste, um sie zu verstehen. „Ich war nicht schnell genug.“ Jetzt fing sie an zu schluchzen. Tränen rannen über ihr verbranntes Gesicht. „Ich musste ihn loslassen, weil ich nicht schnell genug war. Ich hätte ihm folgen müssen, aber ich habe es nicht geschafft.“

      Vorsichtig rutschte ich von meinem Hocker auf ihre Bettkante und nahm sie in den Arm, wohl bedacht darauf, ihre Wunde nicht zu berühren. Etwas unbeholfen strich ich ihr über den Kopf, um sie zu trösten. Eigentlich hatte Cuinn das immer gemacht, wenn es Lilly nicht gut ging. Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich der einzige große Bruder zu sein. „Mach dir keine Vorwürfe. Jetzt ist alles gut.“

      „Glaubst du, er sucht nach uns?“, fragte Lilly und schniefte.

      „Bestimmt tut er das“, versuchte ich, Lilly zu beruhigen. Ich hoffte es. Ich hoffte so sehr, dass er noch am Leben war und wir ihn wiedersehen würden.

      Lilly und ich saßen eine ganze Weile so da, Arm in Arm. Bis Kaya uns unterbrach.

      „So, ihr beiden. Ihr solltet euch wieder ausruhen. Doran, wenn du magst, kannst du heute Abend noch einmal nach deiner Schwester sehen. Wie klingt das?“

      Langsam löste ich mich von Lilly und nickte Kaya zu. „Ja, gerne.“

      „Ich will hier nicht alleine sein“, schluchzte Lilly. „Kann mein Bruder nicht bei mir bleiben?“

      Kaya ließ ihren Blick von Lilly zu mir und von mir durch den Raum schweifen. „Unsere Hütten sind leider nur für ein Bett gemacht, aber wir könnten probieren, ob zwei hier…“

      „Schon gut“, wandte ich ein. „Macht euch keine Umstände.“ Ich schaute zu Lilly. „Ich komme einfach heute Abend wieder.“

      Lilly griff nach meiner Hand und hielt sie fest.

      „Lilly“, seufzte ich. Ich spürte tatsächlich, dass ich mich selbst auch ausruhen musste. Ich konnte nicht bei ihr bleiben. „Kannst du noch bis zwanzig zählen?“, fragte ich sie.

      Sie legte den Kopf schief. „Ja. Eins, zwei, drei, vier, acht, ähm… sieben… nein, sechs…“

      Ich lächelte sie ermutigend an. „Vier, fünf, sechs, sieben, acht… Mir scheint, du musst noch ein wenig üben. Wenn ich heute Abend wiederkomme, zählst du mir alle Zahlen bis zwanzig auf, in Ordnung? Ich weiß, dass du das kannst.“

      Lilly nickte entschlossen. „Ja, bis heute Abend kann ich das, versprochen!“

      „Prima.“ Als ich daraufhin aufstand, ließ sie endlich meine Hand los. Mir wurde etwas schwindelig beim Aufstehen. Vorsichtig tappte ich zu Kaya. Wir verabschiedeten uns von Lilly und gingen zurück in mein Zimmer, wo ich mich sofort erschöpft ins Bett verkroch.

      „Du bist ein guter großer Bruder“, lobte Kaya mich, während sie die Decke ordentlich über meine Beine legte. „Es ist schön, dass du für deine kleine Schwester da bist.“

      „Mhm…“, machte ich nur. Ein guter großer Bruder.

      „Woran denkst du?“, fragte Kaya.

      Ich schaute von meinen Beinen auf und blinzelte ein paarmal. „An meinen Bruder.“

      Mitfühlend zog Kaya die Augenbrauen zusammen und setzte sich neben mich. „Du vermisst ihn sehr, oder?“

      „Ja.“ Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Aber ich bin auch wütend.“

      „Warum?“

      „Weil er versprochen hat, dass wir entkommen würden. Gemeinsam. Er hat versprochen, uns zu beschützen. Und dann ist er weggelaufen.“ Ich ballte die Hände zu Fäusten, dass meine Knöchel weiß wurden.

      „Doran. Ich bin mir sicher, dass dein Bruder das nicht böse meinte. Er hatte sicher auch große Angst. Und wenn man Angst vor etwas hat, dann läuft man oft davor davon“, meinte Kaya.

      „Ich wäre nicht ohne Cuinn und Lilly davongelaufen“, entgegnete ich matt.

      Kaya legte mir eine Hand auf die Schulter. „Das glaube ich dir. Und du darfst auch wütend sein. Aber zu viel Wut kann dich krank machen.“

      „Und was kann ich gegen die Wut machen?“

      „Was hast du denn bisher gemacht, wenn du wütend warst?“, wollte Kaya wissen.

      „Wenn ich wütend auf Cuinn war, habe ich ihn entweder angeschrien oder ihn ignoriert. Aber das kann ich beides nicht tun, weil er nicht da ist.“

      Kaya schmunzelte. „Da hast du recht. Aber weißt du, was du auch machen kannst, wenn er nicht da ist?“

      „Was?“, fragte ich erwartungsvoll.

      „Ihm verzeihen. Vergebung ist die beste Medizin gegen Wut.“

      Vergebung? Wie sollte ich Cuinn verzeihen, dass er Lilly und mich verlassen hatte? Und überhaupt war es mir ein Rätsel, wie Vergebung gegen Wut helfen sollte.

      Kaya schien zu merken, dass ich über ihre Worte nachgrübelte und erhob sich, um mich mit meinen Gedanken alleine zu lassen.

      Ob Cuinn da draußen irgendwo durch den Wald lief? War er überhaupt wirklich entkommen? Ich zerbrach mir den ganzen Vormittag den Kopf darüber. Bis Kaya wieder mein Zimmer betrat. Die nächste Mahlzeit des Tages stand an. Es war öde, den ganzen Tag über nur von Mahlzeit zu Mahlzeit zu leben. Mein Mittagessen bestand aus Graupen und Gemüse.

      „Wie fühlst du dich?“, fragte Kaya, während sie meinen Becher mit Wasser füllte.

      „Gut“, antwortete ich. Das stimmte sogar einigermaßen. Körperlich fühlte ich mich von Stunde zu Stunde besser.

      „Möchtest du nach dem Essen die Gegend ein wenig erkunden? Wir könnten einen kleinen Spaziergang machen. Natürlich nur so weit du es schaffst“, bot Kaya mir an.

      „Ja!“, antwortete ich hastig. Mir fiel die Decke auf den Kopf. Draußen durch das Grün zu streifen, klang nach einer guten Alternative zum Krankenbett.

      „Notfall!“, hörte ich plötzlich jemanden von draußen schreien.

      „Entschuldige mich, bitte.“ Kaya hatte die Worte kaum ausgesprochen, da war sie schon hinter dem Vorhang verschwunden.

      Artig aß ich mein Mittagessen, Löffel für Löffel, obwohl es sich anfühlte, als hätte der Notruf Steine in meinen Magen gelegt. War womöglich Lilly etwas passiert?

      Als Kaya wiederkam, hatte ich meine Schale leer gelöffelt. Die Pflegerin trug einen dunklen Farbschleier mit sich in den Raum. Ausnahmsweise waren es mal keine grellen Farben, die mir Kopfschmerzen bereiten. Eher war es der groteske Kontrast zwischen den dunklen Farben, die Kaya umgaben, und dem Lächeln, das sie im Gesicht trug.

      „Wenn du möchtest, können wir jetzt spazieren gehen“, schlug sie vor.

      Doch plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob sie den Spaziergang mir zuliebe machen wollte oder ihn selbst viel dringender brauchte. „Was ist passiert?“, fragte ich. Ich brachte die Worte kaum über die Lippen. Denn ich wusste längst, was geschehen war. Die Farben flüsterten mir zu.

      „Es ist alles in Ordnung“, wich Kaya aus. „Hat das Essen geschmeckt?“ Sie nahm das Tablett von meinen Beinen und stellte es auf den Tisch neben dem Bett. Dann reichte sie mir eine Hand, um mir aufzuhelfen.

      Ich nahm sie nicht, schaute sie stattdessen nur misstrauisch an. „Warum lügst du mich an? Mutter hat mir immer gesagt, man darf nicht lügen.“

      Kaya lächelte mir müde zu. „Recht hat sie gehabt.“ Sie hockte sich neben mich und strich mir die braunen Strähnen aus dem Gesicht, die vor meinem goldenen Auge hingen. „Manchmal verwenden Leute aber kleine Notlügen, um es sich selbst oder anderen leichter zu machen.“ Sie betrachtete mein goldenes Auge. „Aber