Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 1-3


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betritt den Raum. Love sieht in dem Glas der Fenster das Spiegelbild einer älteren Frau. Sie hat eine hagere Gestalt und ihre Gesichtszüge sind hart und emotionslos. Ihre Bewegungen und ihre Ausstrahlung haben jedoch auch etwas Reines und Unergründliches an sich. Etwas, das hinter der Härte verborgen liegt. Vielleicht war sie einmal ein guter Mensch.

      »Man nennt mich die Oberin«, stellt sie sich vor. »Ich kümmere mich um dich, so lange du hier bist.« Während sie spricht, holt die Oberin einen metallenen Reif aus ihrer Rocktasche.

      »Jede von euch bekommt so einen Ring. Es handelt sich nicht um Schmuck, es ist das Symbol dafür, dass du nun eine Sklavin bist.«

      Love betrachtet die winzigen Abstufungen in dem Material und die kleinen Metallplatten, die man mit dem richtigen Werkzeug oder vielleicht auch mit roher Gewalt lösen kann, um das zu studieren, was darunter liegt. In seinem Inneren ist eine Technik versteckt, da ist sie sich sicher.

      Dann legt die Oberin das Band eng um Loves Hals und verschließt es hinten im Nacken. Damit ist Loves verschönernde Prozedur beendet. Ihr Körper steckt nun in einem enganliegenden braunen Kleid, das bis zu den Knien reicht. Sie würde es durchaus als hübsch und elegant bezeichnen, wenn sie nicht wüsste, von wem es stammt. Loves Füße und Beine wurden in hochgeschnürte Stiefel gesteckt und mit Lederbändern bis knapp unterhalb der Knie festgezurrt. Das gekürzte, noch leicht feuchte und gekämmte Haar steht ihr frech vom Kopf ab. Links wurde eine längere ursprüngliche Strähne mit einer Haarnadel zusammengesteckt. Zuletzt wurde sie geschminkt. Love hat sich noch nie geschminkt. Das Zeugs verwischt nur, wenn man wie sie die meiste Zeit in der Werkstatt verbringt und sich selbst mit den Fingern beim Überlegen und Tüfteln im Gesicht herumfummelt oder bei körperlicher Arbeit ins Schwitzen gerät. Doch sie muss zugeben, dass die Frauen guten Geschmack bewiesen haben. Das Make-up ist dezent aufgetragen und betont ihre leicht kantigen, attraktiven Gesichtszüge. Jetzt wird sie von der Oberin in einen anliegenden Flur geführt. Vermutlich könnte Love die Frau mit Leichtigkeit überwältigen und fliehen, aber ihr Instinkt rät ihr, das nicht zu tun. Es geht nicht darum, zu entkommen. »Ich werde ihn töten«, flüstert sie immer wieder leise in ihrem Innern und bereits jetzt wird es zu ihrem ganz persönlichen Mantra, so lange, bis es vollbracht sein wird.

      Ganz anders als ihr Vater, legt dieser Master Wert auf Extravaganz und Reichtümer. Hier finden sich neben den Wandgemälden an den Seitenwänden alle möglichen Arten von Verzierungen, allen voran etliche Vampir- und sonstige Gruselköpfe, von denen jeder einzelne individuell modelliert ist.

      »Das nenne ich wahre Liebe zum Detail«, denkt Love. Von der Decke hängen hier und da Tropfsteine so niedrig herab, dass man sie ohne Probleme anfassen und aus nächster Nähe bewundern kann. Unterhalb der Gemälde führen mehrere Türen in dahinterliegende Räume.

      »Schrottsammler ist nicht der richtige Ausdruck. Schmucksammler wäre zutreffender«, sagt Love, aber die Oberin schweigt.

      Sie kommen in einen normalen und relativ einfachen Gang. Hier befindet sich auch Loves Zimmer, das an Bescheidenheit kaum zu unterbieten ist. Es handelt sich um eine Besenkammer mit einem Bett und einem kleinen Waschbecken darin. Das Fenster ist vergittert und winzig. Als die Tür hinter ihr verschlossen wird, setzt sich Love auf das schmale Bett und schaut die Wand an, die sich nur in einen halben Meter von ihr entfernt befindet. Jetzt, wo sie allein ist, ist ihr nach Weinen zumute, aber sie schluckt die Tränen tapfer hinunter. Sie sitzt da und wartet ab, was das Schicksal noch für sie parat hat. Ihr Vater hat einmal gesagt, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern nur ein Übergang zu etwas Neuem. Ob das besser oder schlechter ist als das Leben davor, hängt davon ab, wer man war. Was man gedacht, getan und ertragen hat. Das sei das Gesetz von Karma.

      »Es kann nur besser werden«, denkt Love im einen Moment und »was für ein schlimmer Mensch muss sie in ihrem letzten Leben gewesen sein«, denkt sie in einem anderen Augenblick. Doch ihr gelingt es, sich nicht mit diesen Gedanken zu identifizieren. Weitere Gedanken kommen und gehen und Love ist mehr und mehr dazu in der Lage, diese einfach zu beobachten und wieder davonziehen zu lassen. Wie Wolken am Himmel. Je länger sie das tut, desto ruhiger wird ihr Geist, bis sie letztlich nur noch dasitzt und atmet und alles in ihr und um sie herum ganz ruhig geworden ist. Selbst ihre Absicht, den Mann zu töten, den sie über alles hasst, ist gerade unwichtig geworden. Dann hört sie Stimmen draußen auf dem Flur und sie erinnert sich an die letzten Worte ihres Vaters: »Deine Mutter lebt. Sie ist wie du.« Sie setzt sich ein Ziel, für das es sich auf jeden Fall zu leben lohnt. Ein Ziel, das ihr noch wichtiger erscheint, als Rache. Sie will ihre Mutter finden.

      Die Tür geht auf.

      »Es ist Zeit«, sagt die Oberin.

      Sklaven

      Als Love den Flur betritt, öffnen sich weitere Türen entlang des Gangs. Der Abstand der Türen zueinander lässt darauf schließen, dass sich dahinter ebenfalls sehr kleine Räume befinden müssen. Mädchen treten heraus, eines hübscher als das andere und alle tragen sie ähnliche, sehr schöne Kleidung. Für einen Moment erschreckt sich Love vor einem Gesicht. Sie erkennt das junge Ding an ihrem Schmollmund. Es ist ein Mädchen aus dem Clan ihres Vaters. Niemand darf Love erkennen und verraten, wer sie wirklich ist, deshalb senkt sie schnell den Kopf und blickt zur Seite. Sie sieht das Mädchen erneut aus einem anderen Blickwinkel an und erkennt erleichtert, dass sie sich getäuscht hat. Die Ähnlichkeit ist zwar frappierend, aber glücklicherweise ist es nicht das Mädchen aus ihrem ehemaligen Clan.

      Auf die Aufforderung der Oberin hin marschieren alle los. Geschlossen gehen sie hintereinander her, bis sie wieder im Freien, ganz in der Nähe des Foyers, ankommen.

      Love blickt sich um und entdeckt an der Fassade Wasserspeier, Ecktürmchen, bemalte Terrakottatafeln und schwebende Stützpfeiler. Über dem Ausgang befinden sich Figuren, Statuen von Frauen mit Halsbändern.

      Nun werden sie auf eine kleine Empore geführt und müssen sich in Reih und Glied aufstellen. Pferdelose Kutschen fahren vor. So etwas hat Love noch nie gesehen. Wie funktionieren sie? Wie werden sie angetrieben?, fragt sie sich, als sich die Türen der Fahrzeuge öffnen und ein dutzend alte, junge, dicke, gebückt gehende, schmächtige, bärtige Männer und nur ein paar vereinzelte Frauen aussteigen. Ein Anflug von Gier blitzt in den Augen der meisten auf. Eine kleine Falte formt sich über Loves Nasenwurzel und sie befürchtet das Schlimmste. 4-City ist eine käufliche Welt.

      Leider werden ihre kühnsten Alpträume zur Realität und schon beginnen die Männer die Mädchen zu begutachten.

      »Sind sie alle gesund? Niemand hat die Krankheit?«, fragt der ein oder andere.

      »Das sind sie. Sie sind alle Schrottsammler. Schrottsammler haben niemals die Krankheit«, antwortet die Oberin.

      Dennoch verwenden die Fremden irgendein seltsames Gerät und tasten die Mädchen damit in einem Abstand von wenigen Zentimetern ab. Offensichtlich, um sich selbst davon zu vergewissern, dass niemand die sogenannte Krankheit hat. Dann, als wären sie eine Ware, heben die Käufer hier und da ein Kinn oder einen Rock an. Love kann ein junges Ding neben sich schluchzen hören. Ein böser Blick von der Oberin, bringt sie wieder zum Schweigen.

      »Reiß dich gefälligst zusammen«, hört Love die Oberin zischen. Einer der Männer drängelt sich etwas näher nach vorne und baut sich schließlich vor Love auf. Er streicht sich über seinen nicht vorhandenen Kinnbart und beäugt sie.

      »Bist du auch fleißig und folgsam?«, fragt er. Love weiß nicht, was sie sagen soll. Am liebsten würde sie ihm ins Gesicht spucken, aber das traut sie sich doch nicht.

      »Was soll die kosten?«, wendet sich der unsympathische Kerl in Richtung der Oberin.

      »Ein echtes Schnäppchen. Zehn Gramm zu Ektoplasma verdichtetem Æther.«

      »Das soll ein Schnäppchen sein?«, ereifert der Mann sich, doch flugs tritt er noch näher heran, drückt mit seiner rechten Hand Loves Wangen zusammen, sodass sie unwillkürlich ihren Mund öffnen muss, um dem Schmerz zu entgehen. Er sieht sich, ähnlich wie beim Pferdekauf, Loves Zähne an, welche zwar ziemlich schief im Mund stehen, für eine Schrottsammlerin jedoch erstaunlich gut und