Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 1-3


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bin eine Prinzessin«, schluchzt Love nun flehentlich und setzt sich rücklings aufs Bett. Vergräbt ihr Gesicht in den Händen und weint leise.

      »Scht«, flüstert Lea und setzt sich neben sie, einen Arm um sie gelegt. »Es wird schon alles wieder gut«, tröstet sie die Prinzessin, drückt Love und nimmt sie in den Arm.

      »Du wirst Wochen brauchen, um alle zu lesen«, versucht Lea, vom Thema abzulenken und deutet auf die Truhe.

      »Die Bücher sind immerhin ein Fünkchen Hoffnung, dass mein Vater mich besser als gedacht zu kennen scheint. Aber ich werde niemals, niemals diesen Schrottsammler heiraten.«

      »Scht«, haucht Lea und streichelt ihr über die Haare. Ihre Lippen treffen erneut auf die von Love. Der Atem der Prinzessin beruhigt sich. Ihr Herzschlag verlangsamt sich und ihre wütende Zunge wird von Leas gezügelt.

      Zusammen setzen sie sich auf den Boden vor die Truhe und holen sorgfältig ein Buch nach dem anderen heraus. Love geht davon aus, dass ihr Vater höchst persönlich die Werke hineingelegt hat. Oder vielleicht hat er auch einen Schrottsammler unter Androhung, ihn zu köpfen, dazu angewiesen, die Bände umsichtig zu behandeln.

      »Eventuell ist auch ein Buch über Fotografie dabei«, mutmaßt Lea und Love hofft, ihr Vater hat in der Tat eines gefunden. Sie wartet schon seit Monaten darauf, dass er ihr ein solches mitbringt. Vermutlich wird sie sich aber selbst aufmachen müssen und den Bezirk das erste Mal in ihrem Leben verlassen, um die große weite Welt von 4-City eigenständig zu erkunden.

      Love zieht das nächste Exemplar heraus und wahrhaftig, sie hat Glück. Digitale Fotografie steht auf dem Einband. Wie sie ihren Vater dafür liebt. Er hält seine Versprechen immer ein. Love betrachtet die farbige Hülle und fragt sich, was nochmal das Wort digital bedeutet.

      Dann plötzlich schießen die Gedanken wieder empor. »Wird er es wirklich tun und mich verheiraten?« Wird er sie mit dem Sohn eines fremden Clanmasters vermählen? Aus politischen Gründen? Wie ekelerregend. Lea legt eine Hand auf ihre Schulter.

      »Willst du mir daraus vorlesen?«, fragt sie und hält Love das zerrissene Tagebuch hin. Love nickt.

      Aurora

       Woher weiß Karma von meiner Gabe? Von diesem einen Moment in meinem Leben, der mich bis heute nicht mehr loslässt. Wie wird der Rest des Teams reagieren? Was werden sie mich alles fragen?

       Meine Gabe, meine Gotteserfahrung bedeutet, dass die konventionelle Behauptung der Physik falsch ist. Die Prinzipien der Quantenmechanik, welche die Wechselwirkungen zwischen Welle und Teilchen beschreiben, würden nicht nur auf der atomaren Ebene zutreffen, sondern sich auf das gesamte Universum beziehen. Was würde passieren, wenn wir die Öffentlichkeit vom rein mentalen Wesen des Universums in Kenntnis setzen und all unsere Erkenntnisse in Bezug auf Karma als Beweis für Gottes Existenz anführen? Wer würde uns glauben? Fast jeder Mensch glaubt die physische Welt, die wir sehen, sei die Wirklichkeit und das, obwohl Quantenphysiker schon lange festgestellt haben, dass die von uns beobachtbare Welt genau das nicht ist. Einstein kam schon seinerzeit zu dem gleichen Schluss, doch er mochte ihn nicht wahrhaben und verbrachte den Rest seines Lebens mit dem erfolglosen Versuch, die beunruhigenden Konsequenzen der Quantenmechanik zu widerlegen. Karma und meine Gabe sind der Beweis. Die Frage ist nur, wie wird die Welt darauf reagieren? Wie wird die Welt auf Karma reagieren? Wie auf die Wahrheit, dass das Universum nichts weiter als reines Bewusstsein ist?

       Aurora, 2046

      

      In dem Moment, als sie Auroras Name ausspricht, ertönt das Horn. Es ist ein lang anhaltendes Tönen ohne Unterbrechung. Love hebt den Kopf. Emotionen spiegeln sich auf ihrem Gesicht wieder. Traurigkeit gemischt mit Zorn wird von Erstaunen abgelöst. Darauf folgt Entsetzen und schließlich die ungetrübte Angst.

      »Wir werden angegriffen«, ruft sie entsetzt, steht auf und rennt zum gegenüberliegenden Ende des Zimmers.

      »Was machst du denn? Wir müssen uns verstecken!«, sagt Lea mit vor Angst zitternder Stimme. Sie kann ihren Stimmbändern genauso wenig befehlen, keine Panik zu haben, wie sie ihrem Herz nicht untersagen kann, sich keine Sorgen um Loves Leben zu machen. Die Prinzessin schiebt die schwere Kommode ächzend zur Seite. Dahinter erscheint ein Tresor, vor den sie sich nun kniet und beginnt, die Nummernscheibe langsam und gleichmäßig drei Markierungen nach rechts zu drehen. Sie darf auf keinen Fall über den Teilstrich hinaus drehen. Bei diesem Fehler müsste sie von vorne beginnen. Und das benötigt Zeit. Eine Dimension, die gerade Mangelware ist. Sie dreht die Scheibe nach links, bis sie die Ziffer 7 erreicht. Nach rechts bis zur 33 und zurück, bis die Scheibe bei 70 einrastet, dann dreht sie wieder nach rechts. Verdammt, warum musste sie die Zahlenkombination des Sicherheitsschlosses auch so kompliziert einstellen! Love hört wieder Leas ängstliche Stimme bitten, sich jetzt sofort davonzumachen. Sie hört die Kampfschreie draußen auf der Straße und wenn sie sich nicht täuscht, dann auch schon vereinzelt innerhalb des Palastes. Palast? Wohl eher die einstige National City Bank of New York.

      Love dreht die Zahlenscheibe bis zum Anschlag ganz nach links. Die Schließbolzen ziehen sich zurück. Sie zieht an dem Metallgriff, um den Tresor zu öffnen. Im gleichen Moment wird die Tür zu ihrem Zimmer gewaltsam aufgetreten.

      Lea

      »Ergreift sie!«

      Die Schrottsammler stürmen ins Zimmer. Lea hat keine Chance. Selbst wenn sie hätte fliehen oder sich zur Wehr setzen wollen - es wäre mit Sicherheit bei einem aussichtslosen Versuch geblieben. Love muss mit ansehen, wie sich Lea in den Armen der Eindringlinge wiederfindet.

      »Hey, da ist noch eine«, ruft einer der Schrottsammler, als er Love entdeckt, die wie festgefroren vor dem Safe kniet und nicht weiß, was sie tun soll. Sie wird sterben. So schrecklich das klingt, es ist die Art und Weise, wie bei der Übernahme eines anderen Clans verfahren wird. Der Master und alle seine Angehörigen werden beseitigt. Danach ist der Machtwechsel vollzogen und der Clan eingegliedert. Loves Vater hat es selbst so gehandhabt. Mehrere Male, und so die Anzahl seiner Untertanen in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Doch wie ist das alles überhaupt möglich? Wie konnten diese Fremden so ohne weiteres eindringen? Es ist ein Verrat, fällt es Love in diesem Moment wie Schuppen von den Augen. Es gibt Verräter in den eigenen Reihen, anders ist das nicht zu erklären.

      Die Anzahl der kampffähigen Männer ihres Vaters, die zum Schutz als Leibwache abgestellt sind, plus die Wachen an den Grenzen, die sofort bei der kleinsten Auffälligkeit Alarm schlagen, würden bei jedem Angriffsversuch sofort zum Gegenangriff übergehen. Jemand Neues kommt in das Schlafgemach. Es muss ein Anführer sein. Vielleicht der Master des gegnerischen Clans, aber er scheint zu jung dafür zu sein. Sein Auftreten wirkt alles andere als harmlos. Geradezu tyrannisch. Er trägt eine Lederrüstung und hält in der rechten Hand einen spitzen Dolch, an dem frisches Blut klebt.

      »Prinzessin?«, fragt er mit erregter, süffisanter Stimme und macht eine tiefe, vor Ironie nur so triefende Verbeugung. Um Love kümmert sich immer noch niemand, sie ist aber auch nicht fähig, sich zu rühren. Sie betrachtet die ganze Szene, als würde sich alles in Zeitlupe abspielen. Sie fragt sich, was hier nicht stimmt, was falsch läuft. Und plötzlich kapiert sie es. Der Anführer verbeugt sich vor Lea. Love reißt die Augen auf, will etwas sagen. Will ihm klar machen, dass das ein Irrtum ist, dass sie die Prinzessin ist und nicht Lea. Love öffnet den Mund, doch plötzlich wendet ihr Lea den Kopf zu. Die Todesangst steht ihrer Freundin ins Gesicht geschrieben, trotzdem schüttelt Lea leicht den Kopf und gibt Love so zu verstehen, den Mund zu halten.

      Die echte Prinzessin kann sich nicht vom Fleck rühren. Im nächsten Augenblick beendet der Master seine Verbeugungszeremonie mit einer geschmeidigen Bewegung, die Zeugnis von seiner Ausbildung als Kämpfer ablegt. Im gleichen Moment führt er den Dolch schräg nach oben und schiebt ihn Lea unendlich langsam zwischen die Rippen.

      »Ich bitte um ihre Hand«, raunt er und ergreift Leas Hand. Lea schnappt nach Luft und blickt auf den Dolch in ihrer Brust. »Ich fürchte, die Hochzeitsnacht