Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 1-3


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der Kiste.

      »Was ist da drin?«

      »Ein Schatz«, lächelt ihr Vater.

      Love verliert keine Zeit und öffnet ungeduldig den Deckel. Was sie darin sieht, lässt ihr Herz schneller schlagen. Sie legt beide Hände an ihre Wangen und starrt stumm in die Truhe.

      Bücher. Bücher. Bücher. Viel mehr, als dass sie imstande wäre, innerhalb einer Woche zu lesen. Sie löst sich aus ihrer Starre und berührt die Oberfläche eines der obersten Exemplare. Ein schwarzer Ledereinband und silberne Letter. Troja ist der Titel.

      Sie streicht über andere, liest die Namen der Folianten und flüstert sie leise vor sich hin. Mobby Dick. Don Quijote. Der Alchimist.

      Selten zuvor hat Love so gut intakte Einzelstücke gesehen. Als wären sie konserviert worden, um Jahrhunderte zu überstehen.

      »Wo hast du sie her?«, fragt sie atemlos.

      Der Master tritt an den riesigen Apparat heran, öffnet an der Seite eine Klappe und zieht den Inhalt aus dem darunter entstandenen Schlitz. Er begutachtet es zufrieden und unübersehbar entzückt von den Fertigkeiten seiner Tochter. In seinen Augen ist sie die intelligenteste, schönste und geschickteste aller Schrottsammler. Ihre Fähigkeiten, Dinge aus der Alten Welt zu rekonstruieren, und funktionsfähig zu machen, suchen ihresgleichen. Stolz überreicht er ihr das Foto.

      »Das ist der Ort«, raunt er.

      Love betrachtet das Bild und die fremden Schriftzeichen. Es ist keine Sprache, der sie mächtig ist, aber sie fasst in diesem Moment einen Entschluss. Sie wird die Hieroglyphen auf jeden Fall entschlüsseln.

      »Ich habe noch eine Überraschung für dich«, flüstert ihr Vater verschwörerisch.

      »Nimmst du mich auf den Arm?«, fragt sie ihn, während sie das Foyer verlassen und die privaten Gemächer betreten. Auch hier sieht es nur unwesentlich ordentlicher aus. Es liegt nicht in der Natur eines Schrottsammlermasters, in seinen vier Wänden für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen. Es gefällt ihm, wie es ist. Er mag es, all die Dinge chaotisch angehäuft herumliegen und übereinandergestapelt zu sehen. Das Chaos erinnert ihn daran, wer er ist und Love wird den Teufel tun und sich in diese Intimität einmischen.

      Sie setzen sich auf das Ledersofa vor dem offenen Kamin. Bis auf die zerfetzten Lehnen scheint es noch gut intakt zu sein. Im Gegensatz zu dem Schornstein, in dem schon seit einem Jahrhundert kein Feuer mehr gebrannt hat. Stattdessen stapeln sich auf der Feuerstelle Straßenschilder des Bezirks.

      »Also?«, fragt Love.

      »Also was?«

      »Die Überraschung!«

      »Im Grunde gibt es sogar zwei«, sagt der Master.

      Love wird skeptisch. Verengt ihre Augen zu Schlitzen. Sie hat es im Gespür, wenn ihr Vater etwas im Schilde führt. Sie liest seine Gestik. Die verschränkten Arme hinter dem Kopf verheißen nichts Gutes, verraten Love, dass er den Gedanken bereits abgeschlossen und dass er eine Entscheidung getroffen hat. Was auch immer es ist. Sie hält es kaum noch aus, will endlich wissen, was er beschlossen hat und um was für Überraschungen es sich handelt.

      Der Master zieht ein weiteres Buch unter dem Ledermantel hervor. Wow. So viel Empathie hat sie ihm nicht zugetraut. Love ist eine leidenschaftliche Leserin, hat sogar schon eigene Texte verfasst. Sie nimmt es entgegen.

      »Es ist zerrissen und zerfleddert.«

      »Das macht nichts. Ich krieg das wieder hin. Es ist alt«, ergänzt sie.

      »Zwei Jahrhunderte oder mehr, um genau zu sein«, sagt ihr Vater.

      »Woher weißt du ...«, beginnt sie, aber dann hat sie eine der losen Seite in den Händen und sieht es selbst. Es ist ein Tagebuch und der letzte Eintrag liegt lange vor der neuen Zeitrechnung zurück. Tatsächlich sind seitdem über 200 Jahre vergangen. »Ihr Name war Aurora«, flüstert Love und kann es kaum erwarten, es zu lesen. Memoiren gehören zu ihrer Lieblingslektüre. Es gibt nichts Spannenderes und Authentischeres. Love interessiert sich sehr für die Alte Welt. Damals gab es noch keine Schrottsammler und keine Steamborgs. Die Menschen lebten in Ländern, die seltsame Namen trugen. Zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika.

      Hunderte Millionen dienten unter einem Präsidenten. Unvorstellbar! Ihr Vater ist der Master von einem Schrottsammlerclan. Es gibt noch mindestens zwei weitere Clans, vielleicht auch mehr. Jeder herrscht über ein paar tausend Menschen und es ist unausdenkbar, dass alle Schrottsammler nur einem Master dienen würden. Zu groß sind die Differenzen, die Besitzansprüche, die Lebensgewohnheiten und das, obwohl sie alle zur gleichen Gruppierung gehören.

      »Ich werde dich verschenken«, stößt ihr Vater plötzlich hervor und reißt Love aus ihren Gedanken. »Dein Mann wird einmal der Nachfolger eines Masters.« Love fällt die Kinnlade herunter. »Die Steamborgs haben an Macht dazugewonnen und wagen sich erstaunlich weit in unser Territorium. Wir müssen uns verbünden, um stärker zu werden und um sie zum Teufel zu jagen. Eine Möglichkeit, um zwei Clans zu vereinen, ist eine Hochzeit.«

      »Niemals!«, schreit Love.

      Machtverhältnisse

      »Lass uns verschwinden! Pack das Nötigste zusammen. Wir hauen noch heute Nacht ab.«

      Love zerrt ihre Freundin hinter sich her. Lea versteht nicht, was los ist. Seit Love zurückgekehrt ist, ist sie noch weniger zu bremsen als sonst und nicht mehr zu beruhigen. Etwas Schreckliches muss passiert sein.

      »Geht es deinem Vater gut?«, fragt Lea aus gutem Grund. Sie kennt den Verhaltenskodex unter den Schrottsammlern. Ein Clan verhält sich wie ein Löwenrudel. Sie weiß, wie schnell und blutig sich die Machtverhältnisse neu ordnen können, vor allem dann, wenn den amtierenden Master so langsam das Alter zeichnet oder er unverhofft aus dem Leben scheidet.

      Ist Love womöglich in Gefahr? Wurde ihr Vater gestürzt oder im Kampf schwer verwundet? Müssen sie deshalb verschwinden, weil die Anwärter auf den Titel den Befehl erteilt haben, Love, der einzigen Erbin des Masters, die Kehle durchzuschneiden? Bei diesem Gedanken läuft es Lea eiskalt den Rücken runter. Nicht weil das auch ihr eigenes Todesurteil wäre, sondern weil sie Love liebt. Sie ist dieser frechen, ungezähmten, belesenen, intelligenten, wunderhübschen ...

      »Er ist wahnsinnig geworden«, unterbricht Love die Gedankengänge ihrer Freundin und ihrer heimlichen Geliebten.

      »Verrückt?«, fragt Lea und weiß nicht, ob das besser ist als tot.

      »Er will mich verheiraten. Arrangiert. Stell dir das doch nur einmal vor!«, tobt die Prinzessin und wirft einen einfachen ledernen Koffer auf ihr Bett. Das gute Stück ist wie so vieles andere auch ein Mitbringsel ihres Vaters von seinen zahlreichen Streifzügen durch 4-City. Bislang hat sie für ihn nie eine Verwendung gefunden, lediglich mit dem Gedanken gespielt, aber das wird sich jetzt ändern. Wutentbrannt stopft Love wahllos alle Kleidung hinein, die ihr zwischen die Finger gerät. Plötzlich wendet sie sich Lea zu, schnappt sie sich und drückt ihr einen festen Kuss mitten auf den Mund. Mit einem Schmatzen löst sie sich wieder von ihr, wendet sich fluchend erneut dem Koffer zu und lässt ihre Freundin völlig perplex zurück.

      Lea wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen.

      »Wen sollst du heiraten?«, fragt sie unbedacht und bereut es sofort. Love schleudert ein paar hochhackige Schuhe in den Koffer, dreht sich wie eine Furie um und ihre Augen blitzen gefährlich.

      »Das spielt doch überhaupt keine Rolle! Es wird schon irgendein hirnloser Depp sein, der meint, er wäre was Besseres, weil er als Sohn von einem Schrottsammlermaster auf die Welt gekommen ist. Oder noch schlimmer, weil sein Vater den amtierenden Master umgebracht hat. Bei den Wilden da draußen blickt man ja nicht mehr durch. Unser Clan scheint der einzig Beständige zu sein. In den anderen geht es zu wie bei tollwütigen Hyänen. Fressen oder gefressen werden. Pah! Vermutlich hat der Wüstling nur eines im Hirn. Nicht mit mir! Oh nein!«, brüllt sie. »NICHT MIT MIR!«, brüllt sie und schaut Lea wutentbrannt in die Augen.