Manuel Neff

Die Chroniken von 4 City - Band 1-3


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genau richtig, sodass es wie ein inszeniertes Spiel aussieht. Sie wird immer besser und die Zuschauer sind begeistert und jubeln ihr zu. Love ist innerhalb weniger Momente zum Publikumsliebling geworden. Die Meute johlt, lacht und schreit begeistert auf. Bei jedem Ausfallschritt, jeder Drehung und immer dann, wenn Garen sie um Meilen verfehlt. Love macht das im Verlauf des Kampfes so perfekt, dass es dem einen oder anderen die Sprache verschlägt.

      »Garen, lass es sein, es ist zwecklos!«, ruft sie, aber Garen ist schon lange nicht mehr für Worte empfänglich. Er hat den Ausdruck eines gehetzten, wilden Tieres in den Augen. Der Speer rast vor und trifft. Ein stechender Schmerz zuckt durch ihre Hüfte. Er hat sie doch erwischt. Love blickt an sich hinab. Was ist passiert? Sie hat sich ablenken lassen, war nicht voll bei der Sache. Er hat sie nur gestreift, trotzdem tut es höllisch weh. Love lässt ihren Speer fallen, hinkt zur Seite. Die Menge raunt und verstummt für einen Moment und Garen fühlt sich bestätigt und fasst neuen Mut. Er geht, ohne zu zögern, zur nächsten Attacke über und will Love den Speer in den Bauch rammen. Vielleicht ist es Zufall oder ein Instinkt, dass Love in diesem Moment auf die Spitze ihres Speers tritt, der am Boden liegt und es schafft, gleichzeitig durch eine zwar schmerzhafte, aber geschmeidige Bewegung Garens Anlauf auszuweichen. Love bewegt sich mit schier übermenschlicher Anmut und Geschmeidigkeit. Der aufgerichtete Speer gerät zwischen Garens Beine. Er stolpert und stürzt, seinen eigenen Speer unter sich begrabend. Wieder brüllen, lachen und kreischen alle. Garen bewegt sich, will sich aufrichten, bricht aber wieder zusammen und rollt zur Seite. Eine Hälfte seines eigenen abgebrochenen Speers steckt in seinem Bauch. Garen spuckt Blut. Er hat sich selbst tödlich verletzt. Love schaut ihn mitfühlend an, dann wendet sie sich um und rennt, so schnell sie kann, hinüber zu dem Podest. Zu Lea und ihrem Vater.

      Love blickt Lea und ihren Vater an. Sie steht direkt vor dem Podium und kämpft gegen die Tränen an. Wendet den Blick von Lea ab, weil es ihr das Herz zerreißt und sie es nicht länger ertragen kann.

      »Vater?«, flüstert Love.

      »Love, meine liebe Tochter«, röchelt ihr Vater. Es fällt ihm sehr schwer, zu sprechen. »Ich bin so stolz auf dich!«

      »Das weiß ich doch, Vater. Du brauchst mir das nicht zu sagen. Ruhe dich aus. Alles wird wieder gut.«

      »Love, du konntest noch nie sonderlich gut lügen.« Die Prinzessin schmunzelt und dicke Tränen kullern aus ihren Augen und ihre Wangen hinunter. »Ich muss dir etwas sagen.«

      »Vater, ich ...«

      »Halt den Schnabel! Kein Wort mehr! Bitte, lass mich nur einmal aussprechen!«

      Loves Lächeln ist erfüllt von einer Melancholie, für die sie viel zu jung ist. Sie wischt sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, doch dann sieht sie aus dem Augenwinkel, wie der Master des fremden Schrottsammlerclans über eine Strickleiter von seinem Balkon heruntersteigt und in die Arena springt.

      »Beeil dich!«, meint Love und ihr Vater verdreht die Augen. Selbst jetzt haben die beiden ihren Humor noch nicht verloren.

      »Diese Kämpfe. Sie werden erst dann enden, wenn ich tot bin. So lautet hier das Gesetz. Also töte mich. Und noch etwas. Deine Mutter ...«, er muss husten. Blut läuft ihm aus dem Mund.

      Love reißt die Augen auf. Nie zuvor hat ihr Vater etwas über ihre Mutter erzählt. Sie war immer ein Tabuthema.

      »Sie ist nicht tot.« Love will etwas sagen, hält jedoch den Mund. Die Zeit drängt, Leas Mörder kommt immer näher. Sie haben vielleicht nur noch wenige Momente Zeit füreinander, bevor sie einander wieder entrissen werden. Dann wahrscheinlich für immer.

      »Deine Mutter, du bist wie sie. Ihr Name ...« Ein nahes Geräusch lässt Love reflexartig zur Seite ausweichen. Es ist ein Armbrustbolzen, der die Luft nur wenige Zentimeter neben ihr durchschneidet und sich in die Brust ihres Vaters bohrt. Ihr Vater öffnet noch einmal müde seine Augen, blickt Love liebevoll an und dann erlischt sein Licht für immer. Love fällt auf die Knie. Lea ist tot. Ihr Vater ist tot. Sie wendet den Blick ab und schaut den Mörder der beiden liebsten Menschen in ihrem Leben hasserfüllt an.

      »Gut gekämpft! Genug geredet! Die Kämpfe sind beendet«, ruft er und tritt an ihre Seite. Die Armbrust ist frisch gespannt und er zielt damit direkt auf ihren Kopf.

      »Du musst eine treue Dienerin der beiden gewesen sein. Er hat dich sehr geschätzt, das sieht man ihm an. Nun ja, das sah man ihm an.« Love schweigt und beißt die Zähne aufeinander, um jetzt keine Dummheiten zu machen. Sie muss einen kühlen Kopf bewahren. »Wo hast du dich so gut zu verteidigen gelernt, Mädchen?«

      Love bekommt keinen Ton heraus.

      »Ich frage mich, welche Qualitäten sonst noch unter dieser weißen, marmorglatten Haut verborgen sind. Was wohl der Grund dafür ist, dass du ihm und seiner Tochter so verbunden warst?« Er macht eine Atempause, scheint zu überlegen. Love schweigt.

      »Nun, dann eben nicht. Schafft sie in den Tower zu den anderen!«, befiehlt er seinen Schrottsammlern.

      Oberin

      Der Haupteingang des sogenannten Towers ähnelt europäischen Kathedraleneingängen. Er ist mit zahlreichen Tiersymbolen wie Salamandern und Eulen verziert. Zwei Nischen flankieren den Eingang: Eine beherbergt die Statue des Masters, die andere die seines Vaters.

      Love wird von den Schrottsammlern in die Lobby geschoben. Der Boden besteht aus gepflastertem Marmor und die Decke wurde aus Buntglas gefertigt, durch welches das Tageslicht hereinfällt.

      Love weiß gar nicht, wohin sie zuerst schauen soll. Jeder Zentimeter dieses Gebäudes will begutachtet und bewundert werden. Sie wird in einen Raum neben der Lobby geführt, wo bereits mehrere Frauen auf sie zu warten scheinen. Die hintere Wand besteht aus einer Fensterfront. Vor dem Fenster ist eine breite, dunkle Couch positioniert. Ein silbergrauer Teppich liegt vor einer Badewanne aus schwarzem Keramik. Gaslampen sind an Stahlträgern angebracht, die an der hohen Decke entlanglaufen. Als eine der Frauen den Schalter drückt, entflammt eine Lampe nach der anderen.

      Die Frauen beginnen sich, um Love zu kümmern. Als wäre sie eine Schaufensterpuppe und keine echte junge Frau, lässt sie die Prozedur über sich ergehen. Es sind ihre Überlebensinstinkte, die sie davor warnen, etwas Unüberlegtes zu tun oder zu versuchen, sich zu früh für den Mord ihres Vaters und ihrer Geliebten zu rächen. Mehrere Schrottsammlerinnen des fremden Clans ziehen Love splitterfasernackt aus und beginnen ihre Wunden zu versorgen, zu verbinden und sie von oben bis unten zu waschen. Sie schneiden ihre verbrannten Haare ein Stück ab. Abschließend wird sie wieder angezogen. Sie vermutet, dass sie jetzt zum Harem des wohl mächtigsten Masters in ganz 4-City gehört. Und das, weil er ihren Vater betrogen hat. Durch eine Täuschung, durch die vorgetäuschte Absicht, Love zu heiraten. So ist er kampflos in den Bezirk ihres Vaters eingedrungen, hat ihn verraten und ermordet. »Man darf niemandem trauen und ganz besonders keinem Schrottsammler«, denkt Love und beißt die Zähne zusammen, als die Frauen sie endlich alleine lassen und sie sich mit ihrer neuen, kurzen Frisur für einen Moment in der Fensterfront betrachtet.

      Sie könnte glücklich darüber sein, dass sie viel mehr ihrer Mutter gleicht als ihrem Vater. Die weiße Haut, die blonden Haare, die blauen Augen mit einem Hauch grün darin. Im Grunde sieht sie ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich. Anders als Lea. Deshalb und vermutlich nur deshalb ist Lea nun tot und Love noch am Leben.

      Sie könnte sich dafür hassen, sie könnte über den Verlust der beiden weinen, aber alles, was sie spürt, ist Hass. Abgrundtiefen Hass, der ganz allein nur auf eine einzige Person abzielt. Alle anderen sind nur Spielfiguren in dem Schachspiel der Master. So ist das eben bei den Schrottsammlern. Schlägst du der Schlange den Kopf ab, dann wächst ein neuer nach und der ganze Rest folgt erneut dem neuen Clanoberhaupt. Loves Plan ist also denkbar einfach. Sie wird der Schlange den Kopf abtrennen und selbst den Platz des Masters einnehmen. Das ist es, was ihr Vater von ihr erwarten würde. Das ist sie Drave und Lea schuldig. »Das würde er doch von mir erwarten«, denkt Love. Er würde doch sicher nicht wollen, dass sie flüchtet, nur um ihr eigenes Leben zu retten. Sie wird den Master töten, die Frage ist nur, wie und wann. So lange muss sie mitspielen, auch wenn