Frater LYSIR

Magisches Kompendium - Runen und Runenmagie


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Religion, des nordischen Pantheons, verfasst von den Meistern, die den Weltenbaum Yggdrasil auf allen Ebenen bereist haben, oder? Nein, auch nicht wirklich. Die Edda ist ein relativ junges Werk, welches im 13. Jahrhundert im Rahmen der Christianisierung Islands verfasst wurde. Man kann ganz klar sagen, dass es sich um eine Aufzeichnung handelt, die von Christen geschaffen wurde. Auf der einen Seite ist dies gut, auf der anderen Seite bringt dies aber einen Beigeschmack, bei dem irgendwie die Wörter „Germanen“ und „Kelten“ mitschwingen. Germanen? Kelten? Nun, es gab niemals die Germanen, es gab auch niemals die Kelten, denn es waren alles Volksstämme. Die Römer, die Eroberer, haben die jeweiligen Volksstämme unter Sammelbegriffen zusammengestellt. Natürlich haben die Römer sehr viel aufgeschrieben, und aus einem kulturellen Blickwinkel ist dies auch sehr wertvoll, doch werden die Römer, genauso wie die Christen, ihren eigenen Blickwinkel besessen haben, der definitiv nicht wertneutral war. Daher muss man sagen, dass sehr viele Aufzeichnungen kulturell und geschichtlich gefärbt sind. Sie sind gefärbt von Eroberern, von Reformierern, die ihren eigenen Glauben verbreiten wollten, da sie von diesem felsenfest überzeugt waren. So ist die Edda also kein perfektes Werk, welches das nordische Pantheon, die nordische Kultur wiedergibt. Dennoch ist es ein Werk, auf welches sich die heutige Wissenschaft stützt, genauso wie viele magische Gemeinschaften. Hier einmal ein kleines Dilemma.

      Will man nun der Edda glauben oder will man selbst auf Forschungsreise gehen, um vielleicht doch in den Tiefen des Geistes, in den Weiten des Äthers, in den Breiten der Akashachronik zu forschen und zu lesen? Eine Frage, die jeder sich selbst beantworten muss. Wie gesagt, das Lesen im Weltengedächtnis, im Weltengeist, im Weltenäther ist stets individuell. In diesem Kontext könnte man auch einfach sagen, reise über den Weltenbaum Yggdrasil, besuche Odin und frage ihn von Angesicht zu Angesicht. Unterhalte dich mit Thor, unterhalte dich mit Freya, besuche die Wanen und schau, wie diese lebten, leben und leben werden, da in den energetischen Breiten alles raum- und zeitlos ist. Oder will man vielleicht doch auf einen kulturellen und materiellen Schatz zurückgreifen, der jedoch eine christliche Färbung besitzt? Die Edda ist wichtig, denn auch wenn sie im 13. Jahrhundert in Island „in der“ Christianisierung verfasst wurde, spiegelt sie dennoch die Götter- und Heldensagen Skandinaviens wider. Wie christlich war denn wahrscheinlich Island zu dieser Zeit? War es von gigantisch vielen christlichen Fundamentalisten überrannt, die überall Kirchenbauten, ja ganze Kathedralen, um dem einen Gott zu huldigen? Nein, nicht ganz!

      Heutzutage geht man davon aus, dass Island von den Norwegern – den Menschen die im heutigen Norwegen lebten, also den Skandinaviern, um das Jahr 870 dauerhaft besiedelt wurde. In der Tradition wird der Wikinger Ingólfur Arnarson als der erste Siedler betitelt, der ganz klar ein überzeugter Anhänger der nordischen Religion war, und somit all einen Polytheismus glaubte. Doch von 870 bis zum 13. Jahrhundert fehlen noch ein paar Jahre. Während der Zeit der ersten Besiedlung, sollen sich schon irische Mönche auf Island aufgehalten haben, die jedoch schnell wieder vertrieben wurden. Gleichzeitig sollen aber unter den norwegischen Siedlern auch Personen gewesen sein, die sich bereits mit beiden Religionen, mit dem nordischen Götterpantheon und mit dem Christentum, arrangiert hatten, und hier ein gesundes Miteinander praktizierten. Dies war im christlichen Kontext schon fast Revolutionär. Doch man könnte auch sagen, je rauer die Lebensumstände sind, desto pragmatischer muss die Religion sein. Doch neben den Christen und den Nordmännern gab es auch Menschen, die mit der Religion überhaupt nichts mehr zu tun haben wollten. Sie wurden „Götterlos“ genannt bzw. „Goðlauss“ und lebten ihr Leben weitestgehend ohne religiöse Dogmen. Mit der Zeit, und mit der Gründung eines isländischen Freistaates, diese Gründung wurde etwa um das Jahr 930 vollzogen, nahm die Einflussnahme des Christentums Stück für Stück ab. Die nordische Religion, der Polytheismus in Bezug auf das nordische Pantheon fasste wieder vermehrt Fuß. Aus christlichen Kontext heißt es hier natürlich, dass die Heiden Island zurückerobert haben. Nun ja, Heide bedeutet nichts anderes als naturreligiöser Mensch.

      Es wurde in den nächsten Jahren immer wieder versucht, dass Island missioniert werden sollte, doch dies scheiterte immer wieder, was unter anderem daran lag, dass einer der Missionare, mit Namen Þorvaldur Koðránsson, zusammen mit seiner Führungspersönlichkeit, der sächsische Bischof Friedrich, Island wieder verlassen musste, nachdem ein paar Morde auf sein Konto gegangen sind. Nicht wirklich ein perfektes, christliches Aushängeschild. In der Zeit der Jahrtausendwende, kamen weitere Missionare nach Island, wobei diese deutlich darauf drängten, dass das Christentum nun endlich angenommen werden sollte. Es ging sogar so weit, dass der christliche, der getaufte norwegische König damit drohte, alle Isländer in Norwegen töten zu lassen, wenn die Konvertierung nicht langsam vonstattengehen würde. Ja, das Christentum hat schon immer tolle Charaktere hervorgebracht. Zum Glück kam es zu keiner Massentötung, sondern es wurde auf einen Dialog gesetzt, was jedoch zu keiner klaren Positionierung zum Christentum führte. Da aber auch Religionskriege nicht erwünscht waren, wurden jeweils Kompromisse geschaffen, sodass beide Religionen akzeptiert wurden. Der Kompromiss sah jedoch so aus, dass sich alle taufen lassen sollten, dass jedoch der Götterglaube, in Bezug auf das nordische Pantheon, beibehalten werden durfte. Ein Kompromiss eben. So wurde also um das Jahr 1000 herum das Christentum sehr deutlich auf Island installiert. Wenn man jetzt also mindestens 200 Jahre in die Zukunft springt, sodass hier das 13. Jahrhundert seinen zeitlichen Beginn hatte, muss man davon ausgehen, dass auf der einen Seite das Christentum deutlich Fuß gefasst hat, das jedoch immer noch der Glaube an die alten Götter und an das nordische Pantheon existent war. In diesem Rahmen wurde die Edda erschaffen.

      Also war die Edda doch nicht so christlich gefärbt, oder? Nun, dies muss Spekulation bleiben. Was bekannt ist, ist der Umstand, dass es verschiedene Werke gibt, die sich die Bezeichnung „Edda“ teilen. Beide wurden im 13. Jahrhundert verfasst, und beide behandeln die skandinavische Götterwelt und deren Helden sagen. Doch auch wenn beide in etwa im gleichen Zeitraum entstanden sind, unterscheiden sie sich. So gibt es einmal die sogenannte „Snorra-Edda“, die sich auf den isländischen Politiker, Dichter und Denker Snorri Sturluson bezieht, da dieser jene Edda verfasst hat. In diesem Kontext wird auch sehr gerne von der sogenannten Prosa-Edda, oder auch von der jüngeren Edda gesprochen, was jedoch nicht ganz richtig ist. Wenn man so will, geht es hier um eine Art Handbuch für die Dichtungen der Skalden, abgeleitet von dem altnordischen Wort „skáld“ bzw. „skæld“, was man einfach mit Dichter übersetzen kann. Es waren also die Dichtungen von Dichtern - was für eine Überraschung. Nun, die Snorra-Edda soll in den Jahren 1220 bis 1225 entstanden sein, während die „zweite Edda“, die eher unter der Bezeichnung „Lieder Edda“ zu finden ist, viel später, wohl um das Jahr 1270 entstanden ist. In diesem Kontext müsste man also die Snorra-Edda viel eher die „ältere Edda“, und nicht die „jüngere Edda“ nennen - sodass es in diesem Kontext sinniger ist, ausschließlich von der Snorra- und der Lieder-Edda zu sprechen.

      Beide Schriftstücke besitzen zum Teil identische Sammlungen von Liedern bzw. zitierten Strophen, wobei gleichzeitig auch immer wieder verbindende Textabschnitte existieren, die prosaisch niedergeschrieben wurden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass dem Dichter und Politiker Snorri Sturluson die jeweiligen Strophen bekannt waren, was wiederum bedeutet, dass die Lieder-Edda, die zwar viel später als die Snorra-Edda niedergeschrieben wurde, Snorra bekannt war. Da es hier jedoch zeitliche Verwirrungen gibt, wird sehr gerne darauf verzichtet, einen klaren Unterschied zu treffen, sodass man grundsätzlich sagen kann, dass die Edda eine Sammlung ist, die sich auf Lieder, Sagen und Mythen der nordischen Götter bezieht. Die Edda wird als dichterisches Lehrbuch verstanden, welches sich in drei Teile gliedert, wobei die ersten beiden Teile mythologische Sagen und Lieder beinhalten, während der dritte Teil eher ein Strophenverzeichnis ist.

      Bei diesen ganzen Zusammenhängen, Möglichkeiten, religiöser Toleranz und letztlich auch der Umstand, dass nirgendwo sonst die Christianisierung so vonstattengegangen ist, wie auf Island, muss man die Edda in einem Licht betrachten, welches die Chance zeigt, dass dieses kulturelle Literaturstück doch nicht so „verchristlicht“ ist, wie viele andere Aufzeichnungen. Man könnte es sogar etwas provokanter formulieren. Die Edda wurde aus einem neutralen Blickwinkel niedergeschrieben, also nach besten Wissen und Gewissen, ohne die Färbung einer Eroberungs- und Unterwerfungsthematik zu besitzen, wie z. B. die Aufzeichnungen der Römer in Bezug auf „die Germanen“ und „die Kelten“. Die Edda ist also ein echter Schatz, der zwar stets mit Sinn und Verstand gedeutet werden