Thomas Spyra

Es war nicht meine Schuld


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      Großzügig, wie der Herr Baron meinte, bekamen sie zu Lichtmess zumindest ein Handgeld von dreißig Reichsmark im Jahr. Für die Kinder, die mitarbeiteten, gab es zusätzlich jeweils zehn Mark. Einen Großteil des Geldes versoff Friedrich innerhalb kürzester Zeit.

      Gott sei Dank erhielten sie freie Kost und Logis. Sie war froh und dankbar, dass sie mit ihren Kindern in einer winzigen Wohnung überm Stall in der ehemaligen Futterkammer hausen durfte.

      Seit fast fünfzig Jahren gab es die staatliche Sozialpolitik in Preußen. Das Mindestalter arbeitender Kinder war auf neun Jahre festgesetzt, die Arbeitszeit der unter Sechzehnjährigen auf zehn Stunden täglich beschränkt. Durch die Bildungspflicht kamen selbst einfache Leute nicht umhin, ihre Kinder im Alter ab sechs Jahre vormittags in die Schule zu schicken. Wer es sich leisten konnte, vornehmlich der Adel und die reichen Geschäftsleute, ließ die Sprösslinge von Hauslehrern unterrichten. Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck setzte dies nun auch in den entlegenen Landesteilen um. Die Deutsche Freisinnige-Partei im Reichstag hatte ihn immer wieder bedrängt, da auf dem Land in den hintersten Winkeln des Staates, die Gesetze nicht befolgt wurden.

      Friedrich schob gerade den Mist zusammen und genehmigte sich einen kräftigen Schluck aus der Flasche, die immer in seiner Jackentasche steckte, als der Verwalter Schulze wild fuchtelnd hinzukam und schimpfte: «Schule, neumodisches Zeugs, das haben wir nur den Sozis zu verdanken, gehören alle weggesperrt.» Er wusste, dass der Schweinehirt ein Anhänger der Sozialisten war, «Was bezwecken deine Roten mit der Bildung, das ist, wie Perlen vor die Säue werfen. Dafür werde ich euch fünf Mark vom Handgeld abziehen.»

      «Sklaventreiber, Leutausnutzer! Bismarck hat gesagt, jedes Kind hat ein Recht auf Bildung», brüllte Johanns Vater lallend, denn seine drei Kinder besuchten auf Betreiben von Inge die Schule.

      Betrunken stieg bei ihm der Mut, er traute sich etwas zu sagen, auch wenn es nicht immer passend war.

      «Was fällt dir ein, du Rote Socke! Kommunisten und solches Gesindel brauchen wir hier nicht. Ich hätte dich zum Großknecht vorgeschlagen, aber wenn es dir nicht passt, dann nimm deine Tschelotka, deine Sippschaft und verschwinde, ich will euch hier nicht mehr sehen.»

      Inge, die aus dem Haus tretend die letzten Worte hörte, bettelte inständig: «Nein, nein, bitte Herr Schulze, der hat das nicht so gemeint.» Sie stieß ihren Mann an und flüsterte ihm zu, «Entschuldige dich!» Sie hatte Angst, undenkbar für sie, von hier wegzuziehen.

      Mit hochrotem Kopf presste Friedrich widerwillig hervor: «Entschuldigung Herr Schulze, war nicht so gemeint, nicht gegen euch gerichtet.»

      «Ist immer dasselbe mit euch, erst aufregen und dann den Schwanz einziehen. Ich werde mir das merken! Jetzt macht, dass ihr schleunigst an die Arbeit kommt! Fahrt endlich die Luhsche, die Schweinescheiße, weg», wütend stapfte Schulze davon.

      Johann, der versteckt hinter einem Heuwagen kauerte, sah und hörte alles mit. Warum ließ sich Vater so etwas gefallen? Meint der Schulze, er sei was Besseres?

      Er hämmerte mit den Fäusten an seinen Kopf: «Ich gehe hier weg!»

      Ihm wurde bewusst, nur Lernen bringt ihn weiter, so lieh er sich weiterhin heimlich aus der Bibliothek Bücher und las in jeder freien Minute.

      Beim Abendessen erklärte er: «Ich erlerne einen Handwerksberuf, werde kein Schweineknecht, wie du Vater.»

      «Für solche Spinnereien haben wir kein Geld! Es Jingele träumt davon, ein feiner Herr zu werden, hat große Ziele, wir sind ihm nicht gut genug!» Knallrot vor Wut schüttelte Friedrich den Kopf, sprang auf und hetzte in Richtung Stall. Dort nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner Schnapsflasche.

      Inge strich Johann übers Haar, «Du erreichst bestimmt, was du dir vorgenommen hast. Er versteht dich nicht.»

      Heimlich, sich nach dem Vater umsehend, schob sie ihm ein Stück Brot zu.

      «Komm erst mal zu Kräften, sonst wird das nichts!», flüsterte sie.

      Friedrich zurückkehrend, hatte es mitbekommen, es hagelte ein paar kräftige Watschen für Johann.

      «Meint ihr, ich bin blind und taub? Wer nicht schwer arbeitet, braucht kein extra Brot! Deine Bücher verstehst du auch mit knurrendem Magen», aufgebracht zeigte er mit seinem erhobenen Finger auf seine Frau und drohte, «Hör auf, unterstütze den Bengel nicht ständig!»

      Selbstbewusst schaute Johann dem Vater in die Augen, stellte sich schützend vor die Mutter.

      «Glotz nicht so frech! Dir werde ich schon deine Flausen austreiben!» Abermals schlug er auf den Jungen ein.

      Johann biss die Zähne zusammen, unterdrückte die aufsteigenden Tränen, sein Gesicht brannte. Der kriegt mich nicht unter.

      Vor Wut schäumend stapfte der Vater davon, suchte Entspannung bei den Schweinen und wie üblich beim Schnaps. Dann schaufelte er Mist und grölte ein Sauflied laut vor sich hin.

      Dies sollte nicht die letzte Auseinandersetzung gewesen sein. Mit den Jahren wurde es schwieriger, oft prügelte er den Knaben grundlos.

      Mithilfe seiner Mutter und der Köchin, die ihm auch immer wieder etwas extra zusteckten, «Es Jingele muscht wat esse, sonst wird der nix», wuchs der Junge heran. Er schoss in die Höhe, wurde aber nicht kräftig.

      An seinem zwölften Geburtstag schenkte ihm die Mutter mit den besten Wünschen für die Zukunft einen Heidelbeerpudding. Sein Vater überreichte ihm ein paar schwere abgetragene Arbeitsschuhe mit der Aufforderung: «Nach dem Frühstück kommst du gleich mit in den Stall, damit du endgültig lernst, wo dein Platz ist.»

      «Aber ich muss zur Schule?»

      «Verkauf mich nicht für doof, die Schulpflicht gilt nur bis Zwölf. Heute bricht für dich der Ernst des Lebens an, basta – keine Widerrede!»

      Fragend schielte Johann zu seiner Mutter, aber die senkte resigniert den Kopf, unfähig ihrem Mann Widerpart zu bieten.

      So trieb der Junge schon am frühen Morgen bei Sonnenaufgang die Schweine auf die Hutung, mistete aus, versorgte die Muttersauen und die Ferkel. Vergeblich versuchte er, sich sauber zu halten, durchdringend stank er nach Schweinekot.

      Der Nachmittag verlief wie immer, wenn er sonst aus der Schule gekommen war, auf dem schnellsten Weg hinaus in den Eichenwald zu den Schweinen. Hier legte oder setzte er sich in den Schatten und las ein Buch.

      Ein paar Wochen später, im September, fuhr Johann mit einem Karren Mist auf den großen Haufen zwischen den Stallungen und rutschte vom steilen Brett ab. Unglücklicherweise kippte er auf die falsche Seite, entleerte seine Fuhre direkt dem Baron von Streselitz vor die Füße.

      «Hoppla», rief dieser überrascht, «ist doch ein bisschen zu schwer für dich mein Junge. Überlass das besser deinem Vater und bleib bei den Büchern – meinst du nicht? Die sind leichter als der Mist.»

      Johann hätte sich am liebsten verkrochen und wusste nicht, was er erwidern sollte.

      «Du bist doch mein Bücherdieb?», lachte von Streselitz. Der Junge schaute ihn mit großen Augen an. «Hast du gemeint, ich bemerke es nicht? Du hast alle immer sorgfältig behandelt und wieder ordentlich zurückgestellt, darum habe ich geschwiegen. Bin gespannt, wie dies mit dir einmal endet.»

      Johann hatte es die Sprache verschlagen, er starrte verlegen den Baron an.

      «Entschuldigung Herr Baron, kommt nicht wieder vor», eilends zog Friedrich, der gerade aus dem Stall kam, seine Mütze, gab dem Sohn eins kräftig hinter die Ohren und verbeugte sich.

      «Na, na, ist doch nichts passiert», amüsierte sich der Gutsherr und grinste zu den beiden Männern, die ihn begleiteten. «Ist dies der Knabe, von dem ihr so geschwärmt habt, Kaplan?»

      «Ja Herr Baron, das ist der Johann», antwortete der Lehrer Weldig.

      «Ihr meint, ich werfe hier im wahrsten Sinne des Wortes, Perlen vor die Säue