Gabriele Ried-Hertlein

Karibikstrand


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wie lange schon auf der Hotelbeschreibungsseite im TUI-Katalog im weiß-blauen ROY-Polohemd herunter grinst, suchte für jeden Gast aus seinem Mattenstapel morgens die perfekte Liegenunterlage heraus.

      So weit das Auge reichte, unzählige hoch gewachsene karibische Senior-Palmen, an denen Kokosboys am frühen Morgen, bevor die Sonnengäste anmarschierten, mit dicken Seilen und bloßen Füßen hochkletterten und verdorrte Palmblätter und reife Kokosnüsse abhieben und die vollbeladene Schubkarre später zu den Touristen zogen und Kokosnüsse mit gezieltem Schlag ihrer Machete öffneten.

      Und unseren Freund Hardy taufte ich für alle Zeiten in 'Coco' um, seit er weit nach Mitternacht vor der Rezeption mit schleppenden Schritten die Luft-Schubkarre vor sich herschob und müde, mit halbgeschlossenen Augen kläglich "Coco! Coco!" rief, bevor wir Vier, den Bauch haltend und mit einem Heer neuer Lachfalten im Gesicht, bei Ramon unsere klobigen, altmodischen Zimmerschlüssel abholten. Ganz wie von selbst entstand unsere tiefe Urlaubsfreundschaft mit Coco und Flor, für alle Ewigkeit.

      Das kleine Amphitheater unter freiem Himmel vorn am Meer, aus dem wir wie oft mit großem Trara vor dem heftigen nächtlichen Regenguss, der mitten in der Vorstellung plötzlich einsetzte, flüchten mussten. Und ließen uns mit desolaten Frisuren und durchnässter Kleidung auf die Barhocker fallen in der Lobby oder drückten den schweren Vorhang zur Seite zum stark muffigen Clubraum und schoben die dunkelblauen schmalen Samtsessel zusammen für eine Runde Sekt.

      Kurz nur, nicht lange, weil das grell beleuchtete Casino nebenan magisch in eine andere Welt führte, in die wir fast jede Nacht eintauchen wollten. In den Klang der tanzenden Roulette-Kugeln, der monotonen Stimmen der Croupiers, des leisen Kartenmischens. Der dünne Schweißgeruch an den Pokertischen, die glitzernden Lichtkugeln an der Decke und das permanente Kirmes-Gedudel der zwanzig Spielautomaten an den Wänden, das alles war das Casino im ROY Paradiso.

      Geschichten, Legenden, fünfzehn Jahre lang. Dann wollten wir etwas Neues, das nicht den modrigen Geruch in den Zimmern hatte, der sich über die Jahrzehnte hinweg vom salzig-feuchten Meeresklima in die Hotelmauern gesetzt hatte. Wir wollten frischbezogene Sessel und Stühle, unverbrauchtes Mobiliar, neue Strandliegen, und wenn schon Horror-Ventilatoren, dann solche, die wenigstens nicht in einem unbeobachteten Moment ein paar abgerostete Rotorblätter abwerfen würden. Und wechselten ohne zu zögern vor zwei Jahren in das neu gebaute prächtige ROY Palacio nebenan.

      "Ich habe mich in den falschen Film verirrt grad, Leo!"

      Ich stütze die Arme in die Hüfte und starre ungläubig auf die Poollandschaft des Paradiso-Hotels. Nüchternes Schwimmerbecken in Hallenbadformat. Keine geschwungenen Treppen, keine Wasserfontänen aus grünen Steinwassernixen. Drei Weightwatcher-Figuren stehen unbeweglich im Bassin und umklammern Ihr Cocktailglas auf dem Beckenrand. Eine Handvoll Highschool-Teenies und zwei kanadische Senior-Bermudahosen besetzen komplett die Swim-up-Bar am Kopfende des Pools.

      Eckig wie ein Schuhkarton neben dem Pool die nüchtern sachliche Café-Bar.

      Kastige, hart weiße Beduinenbetten mit dicker Matratze in blendend weißem Plastikbezug exakt in gleichem Abstand um den Pool aufgestellt. Und dahinter in zwei Reihen dicht aufgestellte Liegen unter dem meterlangen Gemeinschafts- sonnensegel.

      Der lässig-melancholische Palmengarten von früher hat sich in einen reduzierten Fremdkörper verwandelt. Mager ausgedünnt für schattenlose Boule-Plätze, Bogenschieß- und Hufeisenwerf-Wettbewerbe zwischen niedrigen jungen Büschen und großer Leere. Angepasst an die Quadratur des neuen Hardliner-Pools.

      "Puristisch, wie der neue Kasten nebenan!", stellt Leo nüchtern fest.

      "GIGA-ARMSELIG! Romantischer Karibikzauber wurde in seelenlose Beliebigkeit getauscht!"

      Und ich drehe mich suchend im Kreis, möchte die verloren gegangene Romantik irgendwo finden. Irgendwo, in irgendeinem vergessenen Eckchen.

      Trotzig liegen Herr Betreuteswohnen und Frau Irmintraude Spitzmund abseits des Sonnensegels. Unter dem einzigen, von irgend woher organisierten Sonnenschirm. Und 'Reihe 7' steht mit Profiplayer Gunnar in der Reihe der Hufeisenwerfer, so wie früher schon jeden Morgen Punkt 10:00 Uhr. Unter freiem Himmel. Auf der neuen leeren, weiten Sandfläche. Ohne die alten, sich hin und her wiegenden karibischen Schatten-Palmen.

      "Wir sollten endlich die Strandsaison bei uns drüben beginnen", legt Leo den Arm um meine Schultern.

      Kongo-Otto, Raspel-Ria und Monsieur Clement

      Leo, mit drei Handtüchern unterm Arm und mit prall gefüllter Badetasche über der Schulter, trotzt wie immer dem heftigen Wind und will endlich an SEINEN Strand.

      Ganz nach vorn in seine erste Reihe. Fünf, sechs Meter neben Kay und Raspel-Ria, die bestimmt schon, wie alle Jahre, vor 9:00 Uhr ihr üppiges Liegenlager aufgebaut haben: Zwei Ersatzliegen und zwei Matten gegen Sandsturm, sechs Handtücher und zwei Tische für Schmöker, Kopfhörer, Ascher und Zigaretten. Und eine Maxi-Tube penatenweiße Sonnencreme für Kays dickes Lippenpaar.

      Es war Dodo, Sebastians junge Frau, die gleich in ihrem allerersten ROY-Urlaub im Paradiso turboschnell wie bei allem, was sie machte, für Kay einen unschlagbar besseren Namen hintackerte. Ein Name, der wie eine Gravur sofort untrennbar zu ihm gehörte: "Ich weiß nicht, wie der Koffer heißt, vorn am Strand immer neben Leo mit seiner viel kleineren aschblonden Frau, die eine Frisur hat wie ein frisch gemähtes Weizenfeld. Euer 'KONGO-OTTO' jedenfalls... Ist er vielleicht Rausschmeißer bei einer Disco?", und holte wie immer erst mal tief Luft. "Euer Kongo-Otto drüben: Als eine zehnköpfige argentinische Highschool-Bande sich frech ganz dicht an seine Liegenburg anschließen wollte, in einer Linie, Kopf an Kopf, keine fünf Zentimeter dazwischen", und Dodo riss die Augen auf, "legte Kongo Otto langsam seinen dicken Schmöker aus der Hand, nahm in Zeitlupe mit Blick zur Meute seine Kopfhörer ab, blätterte seinen Hünenkörper von der Liege hoch und stemmte die braunen Muskelarme in die Taille. VERPISST EUCH!!, flog aus dem fleischigen Hölleneingang in seinem Gesicht hinüber zu der jungen Meute." Dodo zog die Schultern hoch und prustete los: "VERPISST EUCH"!, zischte ein weiß eingecremtes dickes Lippenpaar. Und die argentinische Meute, kein Wort verstanden, rückte tatsächlich erschrocken ein paar Zentimeterchen von Kongo-Otto weg. Nicht genug für Kongo-Otto, der sich wie ein Roboter auf sie zubewegte." Dodos Luftvorrat war gerade verbraucht, als sie noch hinhauchte: "Und der Schlachter! Vom Schlachter Pikle hab ich gehört, dass er hämisch gegrinst haben soll bei der Szene, als er gerade in der Nähe seinen Mittagsschlaf unter einer Palme antreten wollte."

      Ich hätte gern neben Leo vorn am Strand auf das Meer geschaut, auf die unruhigen Wellen, auf die Brandung, die im weißen Sand immer wieder versickert und gleich wieder von neuem ankriecht und manchmal kleine Krebse anschwemmt, die sich blitzschnell in den Sand vergraben. Aber Windstärke 5 ist für Isa Gift. Ich lege Sudoku-Heft und den neuesten Tommy-Jaud-Roman auf meinen kleinen Tisch am Pool und schließe die Augen, versuche nicht an das verlorene Paradies im Paradiso und den neuen karibikfreien Hotelkasten Quadrato zu denken. José höre ich mit seinem gläsergefüllten Blechtablett vorbeikommen und strecke blinzelnd meinen Arm hoch.

      "Tienes agua, José, sin hielo?" José, hast Du Mineralwasser ohne Eis für mich?

      "Quando llegada? Su marido? Donde está?" Wann angekommen, wo ist Ihr Mann?

      "Playa, a la playa."

      "Gracias, José. Solbete?"

      "Bo n j o u r , I s a b e l l e !",

      als ich mit nur einem geöffneten Auge das Papier am Trinkhalm abziehe. Ruhe vorbei. Clement und Diane aus dem kanadischen Quebec. Blass und noch in Reisekleidung stehen sie vor meiner Liege.

      "We just arrived", beginnt Monsieur Clement. Gerade angekommen.

      Der Wind wird noch kälter als zuvor, ich schlüpfe vorsichtshalber in mein schwarzes Jerseyjäckchen und schließe die oberen Knöpfe.

      "Jolie, tres jolie!,,, ruft Madame Diane. Sehr hübsch.

      "Y muy practico",, und sehr praktisch, werfe ich ein, was wiederum nur Monsieur Clement und nicht Diane übersetzen kann.

      Wie in der Pubertät fühlt man