Carsten Wolff

Der Geist der Djukoffbrücke


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und im Begriff bin, es zu öffnen. Der Seufzer klingt nach Schmerz, Verzweiflung, Leid, Sorge wie auch nach modernder Vergangenheit.

      »Besser du legst es wieder aus den Händen, bitte!«, so fährt sie fort und greift nach diesem Band. Doch augenblicklich ist es bereits meinen Händen entglitten und liegt aufgeschlagen auf dem Boden.

      »Oh Gott! Die Djukoffbrücke! Klappe es ganz schnell wieder zu und lege es zurück, bitte! Ich will nicht, dass….«

      »Was?«

      »…der Geist geweckt wird!«

      Zu spät!

      Mein Blick ist bereits auf die Zeichnung gefallen, welche in das Album eingeklebt ist. Die Zeichnung ist als Kupferstich ausgeführt, in der akribisch fein Strich für Strich bewerkstelligt und sehr detailliert eine Brücke dargestellt wird. Die abgebildete Brücke ist aus schwerem Granit gebaut und dazu mit einem Eisengeländer bestückt. Sie überbrückt einen kleinen Fluss, einen Nebenfluss der Luga, wie ich später erfahren werde. Die Umgebung ist recht kahl von Bewuchs, nur einzelne Bäume und Sträucher sind darauf zu sehen. Im Hintergrund zeigt sich ein Schloss, sehr klein gehalten, womit der Zeichner offensichtlich perspektivisch die Entfernung darstellen will. Das aber bildet nur das Randgeschehen wie eine Beigabe, denn die entscheidende Szene des Bildes spielt sich auf der Brücke ab.

      Offensichtlich befindet sich augenblicklich eine Kutsche auf der Überfahrt. Der Kutscher wird von einer schwarzen Person vom Kutschbock gestoßen und ist im Fallen begriffen, währenddessen der Fahrgast aus dem Gefährt von zwei dunklen Gestalten gezerrt worden ist, die jetzt gegenwärtig auf diesen einschlagen. Die festgehaltene Szene zeigt einen räuberischen Überfall. Dass es sich um eine nächtliche Stunde handeln muss, offenbart sich an einem mit Wolken verhangenen Mond. Einzig der schwache Schein seines Lichtes erhellt die Szene und wird so zum stillen Zeugen des mörderischen Anschlages.

      Dass es sich hierbei um einen sehr folgenreichen Überfall gehandelt haben muss, zeigt ebenso die ängstliche Mimik meines Gegenübers an. Darüber hinaus offenbart ihr Gesicht das Wissen um eine böse Vorahnung, und es enthüllt gleichzeitig, dass auch sie davon in irgendeiner Weise persönlich betroffen sein muss. Ihr Ausdruck vereinigt in einer wortlosen, mimischen Wolke die Erinnerung und Vorahnung, obgleich dieses grauenhafte Geschehen sich sicherlich vor etwa einhundertfünfzig Jahren abgespielt haben muss.

      »Bitte stell keine weiteren Fragen und gib mir das Album zurück!«, befiehlt die alte Dame, sichtlich wieder gefangen. Doch dafür ist es bereits zu spät, denn in meiner Ungeduld bedränge ich sie mit weiteren Fragen. Diese Abbildung hat nicht nur mein Interesse geweckt, sondern es hat in mir eine unbedingte und unerklärliche Wissensgier entflammt, wozu auch ihr Verhalten einen gehörigen Anteil beigetragen hat. Doch dazu später mehr.

      Sie werden mit Recht wissen wollen, wer die Dame ist und auch ich bin. Selbstverständlich ist es nicht nur ihr Recht, Fragen einzufordern, sondern darauf Antworten zu erhalten, die eminent für den Fortgang dieser Geschichte insgesamt sind.

      So fange ich mit der alten Dame an. Ihr Name ist Lubow Antonowna Riechmann. Die Riechmanns waren unter Peter dem Großen nach Russland gezogen, wie viele andere Deutsche auch. Zar Peter, der einst selbst ins Ausland gegangen war, benötigte Spezialisten mit verschiedenen Qualifikationen. Baumeister, Künstler, Handwerker, vor allem Wissenschaftler wie auch Offiziere. Sankt Petersburg wurde die neue Hauptstadt des Riesenreiches sowie gleichermaßen zu einem Sammelpunkt der vielen Fremden und entwickelte eine ganz spezielle Ausprägung: International, europäisch wie weltoffen zugleich ausgerichtet.

      Doch zuerst zurück zu meiner Freundin Luba. Mittlerweile ist sie 91 Jahre alt und trotz des hohen Alters geistig und physisch voll auf der Höhe. Sie kann es locker mit viel Jüngeren aufnehmen. Sollten sie einmal die Gelegenheit haben, mit ihr eine Partie Schach spielen zu können, werden sie mir sofort beipflichten. Ich tue es nahezu täglich, zumindest immer, wenn ich Zeit und Lust verspüre, und kann deshalb sehr wohl eine zutreffende Einschätzung dazu abgeben. Eine sehr variantenreiche Spielerin ist die alte Dame und vor allem im Endspiel hartnäckig bis zum letzten Bauern. Nun ja, wenn man weiß, wie beliebt dieses Spiel in Russland ist und von jung bis alt gepflegt wird, vermittelt es einen Vorgeschmack, was jeden Gegner wie auch mich erwartet. Aber nicht nur diese Eigenschaft kennzeichnet Luba, was auf Deutsch „Liebe“ bedeutet, sondern etliche weitere dazu, von denen hier im Folgenden noch genug zu hören sein wird.

      Nahezu jede Woche überrascht sie mich mit irgendwelchen selbst erklärten Nebensächlichkeiten, die sich sogleich als Gewichtigkeit herausstellen. Es ist ihre vielfältige Bildung, die sie mit einer Leichtigkeit in sich trägt, und die eben nicht wie auswendig gelernt drückt und dementsprechend nicht, wie ein Rucksack an ihr hängt. Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte sie zeit ihres Lebens nichts anderes getan, als auf einer Universität verbracht und gelernt zu haben: Geschichte, Religionsphilosophie, Literatur, eigentümlicherweise ist sie auch in den von ihr selbst erklärten verhassten Naturwissenschaften fit. Ballett, Theater und Musik sind grundsätzliche Fähigkeiten der Erziehung, die in ihrer ehemaligen Heimat einen besonderen Status genießen und eben deshalb nicht erwähnenswert sind. Dazu spricht sie mehrere Sprachen fließend: Russisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und eingeschränkt auch Spanisch. Englisch schenkt sie keine Beachtung.

      »Schau auf die russische Geschichte, dann erklärt sich vieles von selber«, so spricht sie und fügt sogleich an:

      »Welche Verbindung besitzt oder besaß Russland zu England: keine Erwähnenswerte! England wurde nicht beachtet. Hingegen zu Deutschland, Frankreich und auch Italien gaben und geben es enge Bindungen. Speziell die Romanows waren mehr Deutsche als Russen. Immer wieder verheirateten sich die russischen Fürsten mit deutschen Prinzessinnen. Das ist, als würdest du Rotwein immer wieder mit Weißwein auffüllen, dann bleibt von der ersten originalen roten Farbe nicht mehr viel übrig. Eine einfache Beobachtung!«, und schon lacht sie auf wie ein junges Mädchen und verjüngt sich zum Verlieben um Jahrzehnte.

      Und ich muss eingestehen, das tue ich auch in solchen Momenten. Sie besitzt dann augenblicklich den Zauber der Jugend verbunden mit der Weisheit des Alters. Was für eine unglaubliche Paarung von Eigenschaften! Was für eine Bandbreite des menschlichen Seins fächert sich in ihr und vor mir auf? Symbolisch verneige ich mich vor ihr und in realiter ergreife ich zumeist ihre Hand und deute einen Handkuss an, was sie in der Regel wiederum noch jugendlicher erscheinen lässt. Manchmal errötet sie sogar davon. Häufig gerät darüber das Spiel in Vergessenheit und sie erzählt mir dann immer neue Geschichten aus ihrem reichen Erlebnisschatz, bis wir dann spät abends todmüde auseinandergehen.

      Und doch, obwohl wir uns mittlerweile zehn Jahre kennen, gibt sie mir immer wieder neue Rätsel auf. Es betrifft die nahezu Unerschöpflichkeit ihres Lebensinhalts, die stetig Raum für Spekulation bietet. Jedenfalls, wenn ich abends nach solchen Treffen bei mir in der Wohnung sitze, verfalle ich häufig ins Grübeln. Doch eines habe ich mir geschworen, sie nicht weiter ausfragen zu wollen. Es muss aus ihr ungezwungen hervorsprudeln, ansonsten verschließt sie sich sofort und verliert die nächste Zeit kein persönliches Wort mehr aus ihrem Leben. Ich verstehe diese Verhaltungsweise als nachvollziehbar. Schließlich mutet es an, psychisch in jemanden eindringen oder sich zum Durchscheinen vorbringen zu wollen.

      Optisch bietet sie eine Vielfalt an Persönlichkeiten an, die ihrer zierlichen Gestalt sehr zupasskommen. Sie ist wandlungsfähig wie ein Model, indem sie dem Reichtum ihrer Garderobe nachkommt. Der Fächer der Charaktere öffnet sich von Zurückhaltung bei sehr schlichter Kleidung bis hin zu auffallender Extravertiertheit bei Theaterkleidung, was sicherlich stets mit einer sogenannten Selbstinszenierung zu tun hat. Fortwährend gibt sie sich sehr diszipliniert, denn es könnte sie ja jemand beobachten, hat sie mir einmal gestanden, selbst wenn es ihr physisch schlecht geht. Ist sie krank, duldet sie keinen Besuch. Nachlässigkeit duldet sie nicht, nicht bei sich wie auch anderen Menschen nicht.

      »Doch leider muss der Mensch mit geöffneten Augen auf die Straße gehen. Ich schütze mich durch eine dunkle Sonnenbrille und ansonsten versuche ich die Umgebung nicht wahrzunehmen!«, so spricht sie glaubhaft. Ihr Gang ist straff und aufrecht, was durch hohe Absatzschuhe zusätzlich unterstützt wird.

      »Leider nicht mehr so hoch