Carsten Wolff

Der Geist der Djukoffbrücke


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alten Knochen nicht mehr mit. Ich muss die Absätze mittlerweile auf eine Höhe von etwa sechs Zentimetern reduzieren.« Und man sieht es ihrem leicht wehmütigen Gesichtsausdruck sofort an.

      »Guck dir doch die jungen Mädchen an. Die schlurfen nur mit diesen hässlichen Turnschuhen herum. Keine Körperhaltung. Ein krummer Rücken ist die Folge. Naja, ich würde es bei meiner Tochter nicht durchgehen lassen. Disziplin und Körperhaltung zahlen es dir als Erfolg im Leben wie im Beruf zurück. Glaube mir, mein Freund!«, so fährt sie selbstsicher fort.

      In der Regel bremse ich sie dann in ihrer Rede aus, weil das nächste von ihr angesprochene Thema mir sehr geläufig ist: Die Schule und zugleich auch ihr Hauptreizthema Bildung. Dann fallen sofort Ausdrücke wie keine Anforderungen nach „Allem und Jedem“, nur Rechte einfordern und keine Pflichten haben et cetera. Auch ich bringe für ihre Ansicht Verständnis auf, obgleich ich der deutlich Jüngere bin. Dennoch meldet sich bei ihr in diesen Situationen ihr echtes Alter. Ich kenne dann den weiteren Verlauf der Diskussion: Früher war alles besser! Was es natürlich nicht war und ich ihr mit Beispielen sofort belegen kann. Sogleich baut sich bildhaft vor mir sofort der Leierkastenmann auf, der sehr schwungvoll an seiner Kurbel dreht und irgendwie immer dieselbe Platte aufgelegt hat. Naja, aber genauso wie ihr Anflug an Erregung bei diesen eminenten Themen hochkommt, findet die Landung in Form von Beruhigung wieder sanft wie bei einem Segelflug statt. Sie ist eben sehr diszipliniert, die alte Dame!

      Mittlerweile haben sie meine jung gebliebene, alte Freundin ein wenig besser kennengelernt. Nur ein wenig zwar, denn es wird im Folgenden über sie wie vieles andere zu berichten geben. Doch davon später.

      Damit sie auch über mich etwas erfahren, stelle ich mich ihnen vor. Mein Name ist Torben-Maria Jung. Das „Maria“ machte es mir in den ersten zwei Lebensjahrzehnten nicht immer einfach. Einfach ist es, von Aufgeklärtheit zu sprechen, es zu leben, ist viel schwieriger. Und so musste ich mich stets gegen dumme Witze, gegen Intoleranz oder Ignoranz wehren, sowohl in der Schule wie auch an der Universität. Nun verhält es sich so, dass das Leben ein Gottesgeschenk bedeuten soll, jedenfalls hat es der Pastor während des Gottesdienstes immer so formuliert, dennoch ist Diskriminierung das gefühlte Leben. Und dass es hart ist obendrein, vor allem dann, wenn man als sehr junger Mensch sich eben nicht geschickt artikulieren kann, um den Dummen einen Maulkorb zu verpassen, leuchtet vermutlich ein. Mit der Zeit allerdings habe ich mir ein dickes Fell zugelegt und verfahre nach dem Motto meiner Freundin: Verzeihe den Dummen. Sie wissen nicht, was sie reden! Bitte, das soll keine Überheblichkeit, nur Selbstschutz ausdrücken. So viel zu der »Maria« an und in mir.

      Ansonsten bin ich Anfang fünfzig, pensionierter Lehrer und zurzeit freiberuflich bei einer Versicherung beschäftigt. Meiner Beschäftigung gehe ich von Zuhause aus nach. Auf Neudeutsch heißt es heutzutage: Homeoffice. Meine Pensionierung ergab sich nach einem schweren Verkehrsunfall, bei dem eigentlich kein Knochen im Leib unversehrt geblieben ist. Mehr als zwei Jahre konnte ich meinem Schuldienst nicht nachkommen und war dann körperlich nur eingeschränkt belastbar. Als Sport- und Mathematiklehrer fällt zumindest die erste Betätigung weg. Auch das Stehen und Sitzen im Unterricht war extrem schwierig worden, sodass man mich nach Rücksprache mit dem Amtsarzt früh pensionierte.

      Diese schwierige Zeit habe ich noch nicht komplett verarbeitet, kann mittlerweile aber ganz gut damit mental umgehen. Wetterwechsel, Temperatursprünge meldet mein Körper bereits ein bis zwei Tage zuvor an, sodass ich einen Stock zum Gehen bereitlege und auch benutze. Häufig überfallen mich Schwindelanfälle und auch psychologische Verwirrungen sind mein bleibender Begleiter, der sich wie ein Schatten an meinen maroden Körper festgesetzt hat. Selbst in der Nacht, wenn er sich gut verstecken kann, klebt er spürbar an mir. Mein »Habitus Phlegmaticus«, wie ich meinen Körper mittlerweile scherzhaft nenne, hat die ehemalige Drahtigkeit ersetzt, die wohl für jeden Sportlehrer als Qualifikation Voraussetzung sein muss. Und wie man sich vorstellen kann, sind etliche Kilos an Gewicht dazugekommen, sodass euphemistisch ausgedrückt bei mir von einer Rubensfigur gesprochen werden kann, jedenfalls dann, wenn man meinen zweiten Vornamen dazu in Bezug stellt.

      Dass sich meine Frau vor Jahren von mir getrennt hat, bildet nur noch das sogenannte i-Tüpfelchen aus meiner Leidenszeit. Aber welche Rede hat dazu unser Pastor bereit? Ja, wir Menschen sind zum Leiden hier auf der Welt. Die Erlösung erfolge erst mit dem Tod. Ich habe diese Predigt nie verstanden! Vermutlich nicht, weil ich glücklicherweise noch lebe. Und insofern können sie sich augenblicklich vorstellen, bilden die alte Dame Luba und ich ein nahezu ideales wie platonisches Paar. Etwas salopp ausgedrückt: Die Alte und der Krüppel (so bezeichne ich mich selber)! Doch darauf sind wir beide, Luba und ich, wie selbstverständlich mittlerweile stolz. Jeder von uns hat seinen Seelenfrieden in dieser Verbindung erlangt und wird nicht durch dieses und jenes belastet, bislang jedenfalls nicht, oder anders ausgedrückt, bis ich diesen Fehler begangen und beharrlich nach dieser Djukoffbrücke nachgefragt habe.

      Denn plötzlich verläuft, grundsätzlich von diesem Augenblick an, das weitere zeitliche Geschehen anders und unvorhersehbar. Es ist, als wäre etwas angestoßen worden, etwas Übersinnliches und nicht Einschätzbares etwas. Es ist, als wäre ein Schalter betätigt worden, der diesen Kreis mit Ereignissen in Gang gesetzt hat. Was genau geschehen ist, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar, weil es eigentlich nichts zu erfassen gab, sondern sich schleichend erst entwickeln sollte, unbemerkt und losgelöst von uns Beteiligten, und vor allem sinnlich augenblicklich nicht erfassbar und noch vorhersagbar. Dieses Etwas verhält sich wie mit einer Maschine, in der ein winziges Zahnrädchen einen Mechanismus in Gang setzt und sich hundertfach drehen muss, bis sich ein weiteres großes Rad einen Zacken weiterdreht, und ehe dieses auf ein nächstgrößeres einwirkt. Und so greifen die Zahnräder des Geschehens ineinander und fangen an, unser Schicksal spielen zu wollen. Die Zeit scheint dabei außer Kraft gesetzt zu sein, obgleich im Hintergrund sich dieses Rädchen, dieses Mosaiksteinchen aus einer vergangenen Zeit aus einem alten Buch einer Familiengeschichte aus dem alten Russland wie verrückt bewegt.

      Und an allem trage ich durch meine Uneinsichtigkeit und auch Verständnislosigkeit Schuld, die ich bereits zuvor mit persönlicher Neugierde bezeichnet habe. Das alte Album mit der Zeichnung einer mir unbekannten und ominösen Brücke, die von uns in Hamburg circa 2000 Kilometer in der Nähe einer langweiligen Kleinstadt Luga in Russland oder Oblast Sankt Petersburg entfernt steht, und von deren Existenz ich bis zu diesem Augenblick nicht einmal etwas ahnen konnte, und auf der ein grausamer Mord verübt worden war. Egal! Etwas ist geschehen, was offensichtlich in Gang gesetzt und nicht mehr aufgehalten werden kann.

      Kapitel 2 - Die Familie Riechmann

       Ich sah, wie Throne aufgestellt wurden, und einer, der

       uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und

       das Haar auf seinem Haupt rein wie Wolle;

       Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder

       loderndes Feuer. Und von ihm ging aus ein langer feuriger

       Strahl. Tausendmal Tausende dienten ihm, und

       zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das

       Gericht wurde gehalten, und die Bücher wurden

       aufgetan. (Daniel 7,9.10)

      Woher ihre Familie stammt, konnte mir Luba bei unseren langen häuslichen Sitzungen nicht final beantworten. Auch weil die Riechmanns nicht urkundlich erfasst sind. Sie meint sich schwach zu erinnern, dass ihre Urahnen im ausgehenden Mittelalter aus dem Raum Nürnberg herstammen. Nürnberg bildete die damalige Hochburg des Handwerks, zu denen das Textilgewerbe, Holz- und Metallverarbeitung und insbesondere das Waffenhandwerk gehörten. Später jedoch, das ist belegt, ist ein Zweig der Riechmanns nach Sachsen verzogen und hat sich dort zuerst im Erzgebirge und alsbald dann in Leipzig angesiedelt. Der Name Leipzig bedeutet so viel wie „weiches, schwankendes, wasserhaltiges Gelände“, welches offensichtlich auf das Gebiet der Auenlandschaft bezugnimmt. Hier galt es als sehr ambitioniert, Bauwerke oder Häuser