Carsten Wolff

Der Geist der Djukoffbrücke


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Getränke und vor allem, es gab niemanden von uns, der nicht eine Zigarette oder sogar Pfeife in den Händen hält. Teilweise wurden die Gesichter von Qualm unscharf oder überdeckt. Und ich muss sagen, vieles davon ist mit der Zeit tatsächlich unscharf geworden, indem die Zeit entweder einen Schleier darüber geworfen hat oder die Erinnerung durch den Qualm der Vergangenheit vernebelt worden ist. Und doch ist es schön, so stellen wir gemeinsam fest, in diesen Moment wieder einmal in den Erinnerungen schwelgen zu können. Vielleicht auch, weil wir damals teilweise noch jugendlich frisch gewesen sind oder die Erinnerung die Erlebnisse geschönt hat. Ich jedenfalls bin zu diesem Zeitpunkt ein großartiger Sportler gewesen und mein Körper hat sich in schönster Wohlordnung und Koordination befunden und nicht in einem so desolaten und unkoordinierten Zustand wie im Jahre 2016. Und ich denke, den meisten anderen gehen ähnliche Gedanken im Kopf herum, wenn ich wie jetzt in die Runde gucke. Doch wie sagte dieser Römer, den ich noch kurz zuvor zitiert habe: „Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt!“ Recht hat er.

      Während der letzten Stunden habe ich gar nicht bemerkt, dass dieser junge Mann Arik immer noch in unserer Runde geblieben ist. Still und wortlos muss er dort gesessen und zugehört haben, sodass seine Erscheinung unbemerkt in den Hintergrund getreten ist. Erst als Helmut uns zu einem erfrischenden Kaffee in sein Wohnzimmer lädt, eigentlich ist es der Rausschmeißer-Kaffee, gelangt dieses spindeldürre Wesen wieder zum Vorschein. Oben angelangt fordert Helmut Arik auf, uns etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Zu meiner Verwunderung preist er ihn an.

      »Schaut ihn euch genau an«, so spricht er in die Runde, »er ist die Inkarnation des jungen Rachmaninow!«

      Oh, oh, zu zweiten Mal verwundert mich Helmut an diesem Abend mit seiner Äußerung, obgleich dieser Gedankengang in mir sogleich wieder verfliegt. Bereits mit den ersten Takten überrascht mich der junge Mann mit seinem überdurchschnittlichen Pianospiel. Nicht, dass er die Qualität eines Martin Stadtfeld an den Tag legt, die eines Rachmaninow schon gar nicht, der möglicherweise als der beste Pianist aller Zeiten gilt, dennoch ich persönlich ihn für sehr bemerkenswert befinde, wenn ich mit meiner laienhaften Einschätzung des Spiels den Kopf augenblicklich wohlwillig erhebe. Und tatsächlich spielt er das „Adagio sostenuto“ aus dem 2. Klavierkonzert Rachmaninows an, bevor er in die sehr schöne Adaption des Eric Carmen aus den Siebzigern „All By Myself“ hinübergleitet (wenigstens das Gekrächzte dieses Sängers nicht nachahmt), welches wiederum von vielen weiteren Künstlern wie Celine Dion zu weiterem Glanz verholfen worden ist. Weiter folgen Chopin, Beethoven, währenddessen wir Verbliebenen uns bequem zurücklehnen und beim Kaffee abschalten und den Abend ruhig ausklingen lassen können.

      Ich muss unbedingt morgen davon meiner Freundin Luba erzählen, so denke ich, die ein wahrer Rachmaninow-Fan ist, und die bei ihr Zuhause immer wieder Teile aus seinen Werken vorträgt. Bemerkenswert ist, dass der Russe dieses Werk, während einer Schaffenskrise von Selbstzweifeln geplagt, komponiert hat, so hat mir meine Freundin Luba erzählt, und dass er dieses Klavierkonzert seinem behandelnden Arzt gewidmet hat. Ob das Helmut weiß? Eigentlich egal, denn der Ausklang des Abends oder besser der Nacht ist sehr melodiös schön. Und so verlassen wir Helmut mit besten Wünschen und auf ein nächstes Mal zu einer anderen Zeit und auch Ort.

      Als ich zu meinem Auto gehe, tritt hinter einer Ecke ein Schatten hervor. Ich erschrecke leicht, bevor ich diesen als Arik wahrnehme.

      »Ich habe auf sie gewartet!«, so spricht er mich an.

      »Darf ich ein Stück mit ihnen fahren?«, erkundigt er sich höflich zurückhaltend.

      »Warum nicht? Ich fahre ins Zentrum nach Hamburg zurück. Sagen sie mir, wo sie aussteigen wollen. Einen kleinen Umweg nehme ich gern in Kauf (eigentlich nicht, aber ich bin wohlerzogen!).

      »Ist mir gleichgültig. Ich finde nachts kaum in den Schlaf«, entgegnet er mir.

      »Bemerkenswert! Und doch muss es einen Grund geben, warum sie auf mich gewartet haben, wie sie selber eben bemerkt haben! Ihre Schlaflosigkeit stellt für mich keinen Grund dar!«, behaupte ich.

      »Mag sein, mag nicht sein!«, kommt es achselhebend zurück.

      »Ist das Philosophie, was sie studieren sollen, wie mir mein Freund Helmut bei der Vorstellung verraten hat?«

      »Das Verb „verraten“ ist sehr negativ besetzt. Ich denke, das wollen sie doch hoffentlich nicht auf meine Person beziehen?«

      Mittlerweile haben wir das Auto erreicht, krabbeln hinein und fahren los.

      »Beziehen hat etwas mit Beziehung zu tun, wenn ich nicht falsch liegen sollte!«, antworte ich und fahre fort: »Und ich kann nun wirklich keinerlei Beziehung zwischen uns feststellen, außer, dass wir uns heute zum ersten Male begegnet und vorgestellt worden sind!«

      »Das ist wohl richtig wie falsch zugleich!«, behauptet Arik prompt.

      »Wie darf ich das verstehen, junger Mann?«

      »Sehen sie es einfach so: Wie können sie für sich behaupten, dass wir uns noch nie begegnet sind? Vielleicht können sie sich nur nicht daran erinnern? Und….«

      »Jetzt werden sie anstrengend«, unterbreche ich meinen Mitfahrer, der wieder sehr fahl und dunkel zugleich wirkt, und selbst nicht von der Straßenlaternenbeleuchtung Farbe annehmen will, »und für eine solche Diskussion ist mir eigentlich die Zeit zu spät, denn ich kann im Gegensatz zu ihnen sehr wohl nachts schlafen! Und ich benötige diese Ruhe auch, schließlich bin ich nicht mehr so jung wie sie!«

      Mittlerweile haben wir die Elbbrücken von Süden her überquert und sind nur noch etwa zwei Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt.

      »Sagen sie mir, wo ich sie absetzen soll?«

      »Ich habe kein Ziel, das habe ich ihnen gleich zu Beginn gesagt! Ich will mich nur mit ihnen unterhalten. Das verkürzt meine Nachtschwärmerei. Wo sie mich absetzen, ist mir völlig egal?«

      »Ein komischer Mensch sind sie!«

      »Bewertung und keine Aussage, Herr Jung«, konstatiert er gelangweilt, ohne mir einen Blick zuzuwerfen.

      »Offensichtlich werde ich sie nicht so schnell los, das haben sie gerade angedeutet!«

      »Bingo!«, kommt es zurück.

      »Und weglaufen kann ich ihnen nicht, dass sehen wir ähnlich!«

      »Gleich, wenn ich sie verbessern darf!«

      »Dann mache ich ihnen einen Vorschlag. Wir trinken am Hauptbahnhof bei „Nagel“ (eine Kultkneipe in Hamburg) etwas und danach trennen wir uns.«

      Um diese Zeit finde ich sofort einen Parkplatz auf dem Bahnhofsvorplatz und wir haben nur noch die Straße zu überqueren, um in die Gaststätte zu gelangen. Nur noch wenig Bewegung ist, um uns herum festzustellen. Die üblichen Penner drücken sich in alle möglichen Ecken und auch, so scheint es mir, zwei Polizisten aus der Wache laufen ebenso müde ihren Weg ab. Eigentlich zu träge, um sich um die kriechenden Schnapsleichen zu kümmern. Nur ab und zu taucht noch eine erträgliche Figur auf, die offensichtlich auf dem Heimweg ist. Sonst beherrscht die Nacht das Geschehen, ganz offensichtlich zum Gefallen meines Gesprächspartners. Wenig später steht ein heißer Tee vor mir und vor Arik ein kalter Orangensaft.

      Nach einer längeren Pause spreche ich mein Gegenüber an.

      »Wissen sie, woran ich sofort gedacht habe, als ich sie heute zum ersten Male, auch wenn sie es bereits bezweifelt haben, gesehen habe?«

      »Sie sagen es mir!«, entgegnet er mir abwartend.

      »An Giacometti!«

      »Sie meinen Alberto Giacometti und denken an den „gehenden Mann“.«

      »Genau diesen meine ich. Und der ist mir bei ihrem Anblick sofort über den Weg gelaufen. Und zum zweiten Mal, als ich Helmut heute Abend fragte, ob er einen Wanderer als Mitarbeiter gesucht habe. Lang und dürr zugleich, so wie sie es sind. Sie erinnern es!«

      »Wie in dieser Sekunde. Sollte ich es nicht, Herr Jung?«

      »Ich durchsteige ihre Gedankengänge