Carsten Wolff

Der Geist der Djukoffbrücke


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ihrer Wohnung hinaus, weg von Tee und Kuchen. Neuerlich verwirrt, wie vergangene Nacht bereits, stakse ich die Stufen zu mir hinunter. Und da ich im Augenblick nichts unternehmen kann, will ich erst einmal meinen Freund Helmut am Telefon über diesen jungen, finsteren Mann ausquetschen. Der aber würgt mich sofort ab und sagt:

      »Komm am späten Nachmittag vorbei. Augenblicklich habe ich keine Zeit. Ich habe Besuch!«

      Helmut besitzt ein kleines Haus in Harburg-Marmstorf (liegt im Süden von Hamburg). Vor Jahren hat er sich selbstständig gemacht und hat von seinem ehemaligen Arbeitgeber, ein großes Versicherungsunternehmen, den vollständigen Harburger Bereich inklusive Landkreis „geerbt“. Da er diese Arbeit nicht allein bewältigen konnte, hat er notgedrungen und eher unfreiwillig Mitarbeiter einstellen müssen. Ein Büro wollte er sich in der City aus Kostengründen nicht anmieten, und so ist er dem Gedanken verfallen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er ließ einen Anbau an sein Haus errichten, welches er fortan als Büro nutzen konnte. Wie sich herausgestellt hat, ist die Idee nicht nur sehr gut gewesen, sondern ist vor allem seiner eher trägen Konstitution entgegengekommen. Natürlich hat er das mir nicht eingestanden und würde es auch nicht tun. Dennoch liege ich mit meiner Meinung ganz sicher nicht daneben. Sein Phlegma ist uns allen Mitschülern bereits vom Gymnasium her sehr bekannt. Und daran hat sich mit den Jahren nichts mehr geändert. Wie auch!

      »Komm rein!«, fordert er mich auf, als ich zur angekündigten Zeit an seiner Haustür klingele.

      »Was gibt es denn so Dringendes?«, hakt er sofort nach.

      »Sag mal, ist der Arik bei dir?«

      »Ich verstehe deine Frage nicht? Ist irgendetwas vorgefallen, nachdem du gegangen bist?«

      »Das kann man so formulieren! Aber beantworte meine Frage zuerst. Ist er da?«

      »Nein, ich habe ihn heute noch nicht gesehen. Aber er arbeitet auch nicht regelmäßig hier bei mir, sondern nur, wenn ich ihn dringend benötige. Zumeist hält er sich, aber das habe ich dir bereits gestern erzählt, in Göttingen in der Uni auf, denke ich jedenfalls. Wissen tue ich es nicht!«

      »Dann ist gut. Dann können wir in Ruhe sprechen!«

      »Aber fang endlich an, du spannst ja meine Nerven auf die Folter!«

      »Sofort, sofort! Ich muss mich selbst erst einmal sammeln!«

      Und dann erzähle ich meinem Freund von der letzten Nacht, wieder akribisch und eigentlich genau mit den gleichen Worten, wie ich es meiner Freundin gegenüber nur wenige Stunden zuvor in aller geforderten Breite bereits getan habe.

      »Und das hat sich so zugetragen?«, fragt mein Freund noch einmal nach.

      »So, wie ich dir eben berichtet habe. Genauso!«

      »Hm, das macht mich ein wenig nachdenklich. Lass uns zusammen nachdenken. Was kann er denn von Luba wollen?«

      »Ich weiß es nicht. Ich kann mir auch keinen Reim davon machen. Deswegen bin ich ja auch so schnell wie möglich zu dir hierhergekommen! Auf jeden Fall brauche ich mehr Information über diesen Mitarbeiter Arik. Ich denke, du kannst mir einiges über ihn erzählen!«

      »Gleich, gleich! Und was hat Luba dazu gesagt?«

      »Sie hat etwas von „Mechanismus“ gebrummelt!«

      »Von Was?«

      »Mechanismus, du hast richtig gehört. Und außerdem hat sie sich Zeit zum „Aufschieben und Nachdenken“ vorbehalten! Und mich anschließend vor die Tür gesetzt.«

      »Ich verstehe kein Wort!«

      »Denkst du ich, Helmut? Vor allem, weil sie mich sofort aus ihrer Wohnung geschoben hat. Punkt aus! Zum ersten Mal übrigens. Nochmals: Deswegen bin ich bei dir. Also fang an, jetzt bist du an der Reihe!«

      Und dann fängt Helmut zu erzählen an. Wie er Arik kennengelernt hat. Wie er ihn eingestellt hat. Etwas von dem Zusammentreffen mit ihm und so weiter.

      »Torben, wenn ich jetzt darüber nachdenke, überkommen mich selbst einige Zweifel. Ja, wer hat eigentlich wen getroffen? Und ich muss dir ehrlich antworten: Ich weiß es gar nicht mehr!«

      »Wie bitte? Was weißt du nicht mehr?«, hake ich ungeduldig nach.

      »Unterbrich mich nicht und lass mich ausführlich berichten. Hm, irgendwie komisch ist es schon. Also, wie ich gestern bereits gesagt habe, habe ich eine Anzeige im

      Uni-Portal abgesetzt. Zuerst habe ich mich noch gewundert, dass niemand darauf reagiert. Weißt du, normalerweise wird man von den Studenten mit Mails und Anrufen „bombadiert“. Diesmal passierte gar nichts: Kein Anruf, keine Mail, nichts. Aber das habe ich erst nach ein paar Tagen realisiert. Dann habe ich nachgeschaut: Die Anzeige war seit Tagen veröffentlich! Komisch, dachte ich, sonst….«

      »Sonst überschütten die dich! Weiter, Helmut!«

      »Und dann stand dieser Arik auf einmal vor meiner Bürotür!«

      »Stand einfach da?«, frage ich irritiert.

      »Genau! War da und erkundigte sich nach dem Job, ob er noch frei sei und so weiter. Ich habe ihn hereingebeten und erst einmal ein wenig sitzen lassen. Bei uns herrscht immer solche Hektik, immer alles schnell, schnell und sofort…«

      »Weiter Helmut!«, treibe ich ihn ungeduldig an.

      »Aus dem Augenwinkel habe ich ihn im Blickfeld gehabt. Lang, dürr, dunkel und wie unbeteiligt still hat er auf einem Empfangsplatz gesessen. Da vorn hat er gesessen«, und mit einer Handgeste zeigt Helmut auf diesen Stuhl.

      »Und was ist weiter passiert?«

      »Nicht viel. Er hat mit einem Buch in der Hand gesessen und darin gelesen. Nichts schien ihn zu stören. Als ich ihn dann zu mir gerufen habe, blickte er kurz auf und ist dann zu mir ins Büro getrottet. Aus Interesse habe ich mich nach dem Buch erkundigt. Er hat es hochgehalten, doch ich konnte nichts darauf lesen…«

      »Weil es in kyrillischer Schrift geschrieben ist«, unterbreche ich meinen Freund.

      »Woher weißt du das?«

      »Ich ahne es! Du hast ihn uns doch als Slawistikstudenten vorgestellt«, füge ich an.

      »Stimmt! Das habe ich gestern getan. Aber weiter. Dann hat er mir von Göttingen, dem Studium und dass er mit Leuten gut umgehen könne und dass er schon einmal für eine Versicherung zuvor gearbeitet habe. Und auch, dass er zuverlässig sei und dieses übliche bla, bla.«

      »Entschuldige, wenn ich dich noch einmal unterbreche. Hast du ihn nicht gefragt, wieso er ohne Anruf plötzlich und unangekündigt vor deiner Tür steht?«

      »Komisch, jetzt wo du es sagst. Darauf bin ich gar nicht gekommen. Irgendwie bin ich abgelenkt gewesen. Naja, eben die Hektik im Büro. Jedenfalls, da der junge Mann einen guten zurückhaltenden und klugen Eindruck auf mich gemacht hat, habe ich ihn sofort engagiert. Und ich muss sagen: Ich habe auch keine Lust mehr gehabt, mich weiter um das Jobangebot zu kümmern. Nach unserem Gespräch, habe ich ihn zu meinen Mitarbeiter zur weiteren Einweisung weitergereicht und die Sache ist für mich erledig gewesen…«

      »Ist sie aber nicht!«, werfe ich dazwischen.

      »Wie meinst du das?«

      »Würde ich sonst hier bei dir sitzen und wir beide über ihn sprechen? Aber egal, ist dir denn sonst etwas an ihm aufgefallen oder deinem Mitarbeiter vielleicht?«

      »Nicht, eigentlich nicht. Er hat seine Aufgaben erledigt und die Kunden befragt, wie ich es vorgesehen habe. Warte, doch einmal hat er wieder ungebeten vor der Tür gestanden.«

      »Und was wollte er?«

      »Auf Toilette!«

      »Nur auf Toilette? Er kommt aus Göttingen nach Hamburg, um auf Toilette zu gehen?«

      »Ist da etwas Verwerfliches dran? Er hat zu mir gesagt, er würde hier jemanden in der Gegend besuchen wollen, müsse aber dringend aufs Klo. Sein Termin sei später!«