Carsten Wolff

Der Geist der Djukoffbrücke


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Lorbeeren verdient, die über die Landesgrenzen hinaus ausstrahlten und die wohl letztlich den Ausschlag gaben, diesen Spezialisten nach Sankt Petersburg zu locken, wo ähnliche Bodenverhältnisse vorherrschen. Aber, ob es sich tatsächlich so zugetragen habe, dass wisse Luba auch nicht exakt.

      Allein dieser Peter Tilmann Riechmann sei in ihrer Familienchronik vermerkt und bilde den Ausgangspunkt des so genannten russischen Stammbaums der Familie. Dass viele weitere Riechmanns folgen sollten und auch Verbindungen mit russischen Geschlechtern eingegangen sind, macht Luba mir immer mit einer sehr feierlichen Stimmlage verständlich.

      Auch betont sie gleichzeitig immer, wie wertvoll ihr das Vaterland sei und dass dieses stets im Vordergrund zu stehen habe, was auch immer durch Irrungen oder Verwirrungen der großen Politik ausgelöst und umgestaltet wird. Letztlich, so betont sie weiter, habe der Mensch jedes System überdauert, egal wie schwierig es auch für den Einzelnen sich vollzogen hat. Vaterland und nochmals Vaterland, das stehe im Vordergrund, und nicht der Einzelne. Dieser sei nur ein Sandkorn im Boden des Vaterlandes, und doch individuell genug, um erkennbar oder auffindbar zu sein. Und immer wieder fällt bei ihr das Wort »Von der Liebe zum Vaterland und auch zum Herrscher oder auch von unserem allerliebsten Vaterland Russland«, so ist es in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergereicht worden und letztlich ins Blut übergegangen.

      Und danach kommt sie sofort auf Deutschland zu sprechen, wo sie solche Worte in den letzten siebzig Jahren nicht gehört habe. Naja, entgegne ich ihr, Deutschland habe auch eine ganz spezielle Nachkriegsgeschichte. Sie nickt mir zustimmend zu, es sei ihr wohlbekannt, dennoch meint sie, dass ich viel zu kurz mit meinen Gedanken greife, und rückt in mir das Geschichtsbewusstsein für Deutschland zurecht. Vielleicht hat sie recht? Meine Freundin ist einundneunzig Jahre alt und ich eben vierzig Jahre jünger, vermutlich macht das den Unterschied in der Denkweise und Lebenserfahrung aus. Als Lösung dieses mentalen Disputs bringe ich das Thema auf Tee. Und zumeist wechseln wir zu den Annehmlichkeiten des Lebens und trinken eine, durchweg mehrere Tassen, Tee als sogenannte Friedenspfeife. Doch ihre Ermahnung schwebt im Hintergrund des Raumes weiter.

      Aber weiter zu den Riechmanns. Wie bereits erwähnt ist die Familie Riechmann dem Ruf des „großen“ Zaren Peter gefolgt und hat sich in der Region Sankt Petersburg angesiedelt. Das war zu Beginn des 18. Jahrhunderts und mehr als zweihundert Jahre vor der Geburt meiner Freundin Luba. Der erste Riemann befand sich im Gefolge des Baumeisters Andreas Schlüters, der zuvor in Berlin gewirkt hatte, und auch Johann Friedrich Braunsteins und war zur Fertigstellung des großen Palasts Peterhof nach Sankt Petersburg berufen worden. In der Folge wirkte dieser an diversen Bauten mit und gab folgerichtig seinem Sohn, und der wiederum einem seiner Söhne, das bauliche Talent weiter. Was für den ersten Riechmann zuerst als ein kurzweiliges russisches Abenteuer anmutete, hatte sich später als der Mittelpunkt der Familie erwiesen, sowohl auf beruflicher wie auch gesellschaftlicher Ebene. Es war und blieb die Stadt: Sankt Petersburg.

      Die ehrgeizigen Pläne des Zaren waren damals langsam wie Samen aufgegangen, die auf fruchtbaren Boden fallen. Hier im Bereich der Newa war der Boden keineswegs fruchtbar, sondern morastig und für Granit zu nachgiebig und stellte eine bislang nie da gewesene Herausforderung an die Baumeister und Arbeiter insgesamt dar. Fast unmenschlich ist es damals zugegangen, um diesen Widrigkeiten zu trotzen, folgt man Berichten und Aufzeichnungen von damals. Und genau deshalb stimmt auch die Behauptung, dass die Stadt auf Knochen gebettet liegt. Knochen der vielen Helfershelfer, die beim Bau zu Tode gekommen sind.

      Doch bevor diese Menschen zu blanken Knochen werden konnten, haben deren vielzählige Arme und Beine zu heben, drücken, schieben, hebeln gehabt, bis die Adern zum Platzen angeschwollen sind und das Blut herauszuspritzen drohte, um die riesigen und tonnenschweren Kolumnen, die Granitblöcke auf ihre Plätze wuchten zu können; Morast, Sand, Steine und Mörtel heraus- und hineinzubewegen, zu füllen, um letztlich das Einzelne zu einem Gesamten zusammenzufügen, zu einem ehrgeizigen, einzigartigen Gesamten, deren i-Tüpfelchen die Künstler mit ihrem Zierrat versehen und somit insgesamt zu einer bildnerischen Wohlordnung verholfen haben, deren Schönheit die Menschen verzückt hat, damals wie heute und egal ob sie vom Stande Leibeigene, Adelige oder einfache Bürgen waren und sind.

      Denn das hat ein jeder gespürt, dass nicht das einzelne Bausteinchen zählte, sondern nur das Gesamte zusammen, als ein aus Menschenhand gefertigtes brillantes Kunstwerk wirkt und damit auch den einzelnen Menschen auf ein zeitlich Vorübergehendes reduziert gegenüber diesen monumentalen, zeitüberdauernden Kunstwerken insgesamt. Es war und ist, als würde die ewige Natur ein Stückchen ihrer Ewigkeit an den Menschen abzutreten haben. Es war und ist, als hätte sich der Mensch von der Natur einen Flecken Land geborgt, um ihr entgegenzutreten, dass nicht sie allein göttlich ist, sondern auch der Mensch den göttlichen Keim in sich trägt: als Bildner wie als Helfer. Wohlgeordnet und rational berechnet durch jeden Beteiligten an seiner richtigen Stelle.

      So ist langsam Stück für Stück der Granit in die Höhe gewachsen. Paläste, Kirchen und Häuser sind entstanden. Ein riesiger Moloch aus Stein, der durch den Ehrgeiz Peter des Großen geweckt worden ist und nun barbarisch über dem Boden und Wasser zu herrschen anfing und sich von behauenen Steinen zu ernähren schien. Sein Brüllen und Hunger konnte nur durch weiteren Stein im Zaum gehalten und nur so lange teilweise gestillt werden, bis auch dieser sich an diesem Gesamtkunstwerk Sankt Petersburg befriedigt hatte. Und vermutlich kann man dieses domestizierte Ungeheuer nur noch an seinen zufrieden glänzenden Augen erkennen: Das viele Gold, welches die Kuppeln der Kirchen krönt und von etlichem Zierrat der Gebäude blinkt und das die Stadt bereits von Weitem herrlich glänzen lässt. Bei Sonnenlicht werfen sich die Gebäude goldene Lichtreflexe zu, die das Kunstwerk Stadt nahe an eine dichterische Göttlichkeit bringen und stets eine starke Inspiration der Künstler nicht nur herausfordern, sondern nachhaltig beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. Sankt Petersburg, das Venedig des Nordens, das glitzernde und goldig glänzende, atemraubende Gesamtkunstwerk einer kreativen Einmaligkeit, Schaffenskraft und Willenskraft. Von Malern, Sängern, Dichtern auf das Höchste seit mehr als dreihundert Jahren besungen und gewürdigt.

      Carlo Rossi, Silvio Danini, Giacomo Quarenghi, Francesco Bartolomeo Rastrelli, Antonio Rinaldi, Andreas Schlüter, Andrej Stackenschneider, Wasilij Stasow, Domenico Trezzini, Jurij M. Felten, Hieronymus Küttner wie auch Riechmann besitzen seitdem einen mehr oder minder großen Anteil an diesem genialem Kunstwerk Sankt Petersburg.

      In der Folge haben sich weitere Glieder der Riechmann Familie Meriten in der Wissenschaft, Bauhandwerk wie auch im Klavierbau erworben. Begünstigt wurde die Entwicklung der Riechmanns von der Situation Sankt Petersburgs, nachdem Peter der Große die Stadt zur neuen Hauptstadt auserkoren und insgesamt dem Riesenreich Strukturen oktroyiert hatte, die mit »Petrinischen Reformen« bezeichnet werden: Staatsumbau, Militär-, Wirtschafts-, Kirchen-, Sozialreformen. Allein das Leibeigentum hat Zar Peter unangetastet gelassen. So wurde Sankt Petersburg insgesamt zum Zentrum der Kultur. Was zuvor über Jahrhunderte Moskau gewesen ist, diesen Status nahm nunmehr Sankt Petersburg ein. Dass der Adel von dieser Idee überhaupt nicht begeistert war, denn deren Paläste standen in Moskau und damit etwa achthundert Kilometer entfernt, lässt sich leicht nachempfinden. Und dass kurzfristig nach dem Tod Peters die Hauptstadt wieder Moskau hieß, lässt sich ebenso nachempfinden. Doch sollte es nur von kurzer Dauer sein.

      Für die Riechmanns haben diese Gedanken keine wesentliche Rolle gespielt. Sie waren und sind „Ausländer und Neubürger“ geblieben und Bestandteil der neuen Hauptstadt sowie auch Russlands. Und die Chancen standen für die Ausländer sehr gut, denn diese haben Peters Reformen mit ihrem Wissen ausgefüllt. Einhergehend hat sich Lubas Familie den Status einer gesellschaftlichen Hochachtung erworben, ohne jedoch geadelt worden zu sein. Zusätzlich wurde von der Familie ein nicht geringes Vermögen angehäuft, was ihnen einen überaus ambitionierten Lebensstil erlaubte. Die Gesellschaft traf sich in diesen Jahren in den Logen von Theatern und knüpfte so Kontakte und lotete mögliche günstige Verbindungen der Söhne und vor allem der Töchter aus. Als Folge wurden die Söhne und Töchter gut verheiratet. Die Riechmanns besaßen ein Landgut und für den Winter ein kleines Palais in der Hauptstadt. Deutsch wurde in der Familie nie vernachlässigt, obgleich Französisch die geläufige Sprache der Gesellschaft und des Adels gewesen ist. Russisch spielte eine eher untergeordnete Rolle und diente lediglich zur Verständigung mit den Bediensteten. Eine